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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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gingen am Marinearsenal vorbei, von wo eine Sirene ertönte, und als sie über das freie Feld gingen, auf der Höhe des trockenen Deichs, löste sich ein Hund aus den Schatten und bellte sie an. Sie gingen schweigend weiter, horchten, wie die Stiefel auf das Pflaster schlugen, hörten das nahe Rauschen des Meeres und spürten in der Nase die feuchte, salzige Luft. »Auf diesem Feld haben sich im letzten Jahr Zigeuner niedergelassen«, sagte Manzanita plötzlich mit gebrochener Stimme. »Sie haben ein paar Zelte aufgeschlagen und Zirkusvorstellungen gegeben. Sie haben wahrgesagt und gezaubert. Aber wir mußten sie vertreiben, Befehl des Bürgermeisters, sie hatten keine Erlaubnis von der Stadt.«
    Lituma antwortete nicht. Plötzlich empfand er Mitleid, nicht nur mit dem Neger, auch mit Manzanita und den Zigeunern.
    »Und lassen wir ihn dann einfach am Strand liegen, den Pelikanen zum Fraß?« Manzanita schluchzte beinahe. »Wir lassen ihn auf der Müllhalde, damit ihn die Müllfahrer finden, ihn ins Leichenschauhaus bringen und ihn der medizinischen Fakultät schenken, damit die Studenten ihn sezieren.« Lituma wurde wütend. »Du hast doch den Hauptmann gehört, Arévalo, ich will den Befehl nicht ständig wiederholen.« »Ich habe ihn gehört, aber es will mir nicht in den Kopf, daß wir ihn einfach abknallen sollen«, sagte Manzanita etwas später.
    »Und Ihnen auch nicht, auch wenn Sie es versuchen. An Ihrer Stimme habe ich gemerkt, daß Sie auch nicht einverstanden sind mit dem Befehl.«
    »Unsere Pflicht ist nicht, mit einem Befehl einverstanden zu sein, sondern ihn auszuführen«, sagte der Wachtmeister schwach. Und nach einer Weile noch langsamer: »Du hast recht. Ich bin auch nicht damit einverstanden. Ich gehorche, weil man gehorchen muß.«
    Jetzt waren der Asphalt, die Avenida und die Laternen zu Ende, und sie gingen im Dunkeln über den weichen Boden. Ein dichter, beinahe undurchdringlicher Gestank hüllte sie ein. Sie waren auf der Müllhalde am Ufer des Rïmac, ganz nahe am Meer, auf diesem Viereck zwischen Strand, Flußufer und Avenida, wo die Lastwagen der Müllabfuhr um 6 Uhr morgens die Abfälle von Bellavista, La Perla und Callao abluden und wo ungefähr zur gleichen Zeit eine Horde Kinder, Männer, Greise und Frauen anfingen, auf der Suche nach irgendeinem verwertbaren Gegenstand in dem Müll herumzustochern und den Seevögeln, den Geiern und den streunenden Hunden die eßbaren Reste, die sie unter dem Abfall fanden, streitig zu machen. Sie waren ganz in der Nähe jener Wüste an der Straße nach Ventanilla, Ancôn, wo sich die Fisch mehl fabriken von Callao aneinanderreihen.
    »Das ist der beste Platz«, sagte Lituma. »Alle Wagen der Müllabfuhr kommen hier vorbei.«
    Das Meer rauschte laut. Manzanita blieb stehen und auch der Neger. Die Polizisten hatten ihre Taschenlampen angemacht und prüften in dem zitternden Licht das von Linien zerschnittene, ungerührt kauende Gesicht.
    »Das Schlimme ist, daß er keine Reflexe hat und überhaupt nicht ahnt, was los ist«, murmelte Lituma. »Jeder würde es merken, würde Angst haben und versuchen wegzulaufen. Mich macht seine Ruhe ganz verrückt, dieses Vertrauen, das er zu uns hat.«
    »Ich habe eine Idee, Herr Wachtmeister.« Arévalo klapperten die Zähne, als wäre er halb erfroren. »Lassen wir ihn doch laufen. Wir sagen, wir haben ihn umgebracht und, nun ja, irgendeine Geschichte, die das Verschwinden der Leiche erklärt …“
    Lituma hatte seine Pistole gezogen und entsicherte sie. »Du wagst es, mir Ungehorsam gegen einen Befehl von oben vorzuschlagen und noch dazu, ihnen was vorzulügen?« Die Stimme des Wachtmeisters zitterte. Seine rechte Hand richtete den Lauf der Waffe auf die Schläfe des Negers.
    Zwei, drei, mehrere Sekunden vergingen, und er schoß nicht. Würde er es tun? Würde er gehorchen? Würde ein Schuß fallen? Würde der mysteriöse Einwanderer über die unkenntlichen Abfälle rollen, oder würde man ihm das Leben schenken, und würde er blind, wild über den Strand der Vorstadt fliehen, während ein untadeliger Wacht meister dort stand, umgeben von fauligem Gestank und dem Rhythmus der Wellen des Meeres, betroffen und tieftraurig, weil er seine Pflicht nicht erfüllt hatte? Wie würde diese Tragödie von Callao enden?
     

V
     
    Der Aufenthalt von Lucho Gatica in Lima wurde von Pascual in unseren Nachrichten als »außergewöhnliches künstlerisches Ereignis, als großer Hit des nationalen Rundfunks« bezeichnet. Mich kostete

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