Tante Julia und der Kunstschreiber
fünfzehn Jahren verloren?« lachte sie. »Eine schrumpelige Alte!«
Sie hatte ein rauhes, kräftiges, direktes und fröhliches Lachen, das ihren großen Mund mit den starken Lippen weit öffnete und Fältchen um ihre Augen entstehen ließ. Sie sah mich ironisch und boshaft an, noch immer nicht wie einen richtigen Mann, aber nicht mehr wie ein Jungchen. Sie stand auf, um mir einen Whisky zu holen:
»Nach deinen Vertraulichkeiten letzte Nacht kann ich dir keine Coca-Cola mehr anbieten«, sagte sie und tat, als bedauerte sie es. »Jetzt muß ich dich wie einen Verehrer behandeln.« Ich sagte, der Altersunterschied sei so schrecklich nun auch nicht.
»So schrecklich nicht«, erwiderte sie. »Aber er reicht fast, daß du mein Sohn sein könntest.«
Sie erzählte mir die Geschichte ihrer Ehe. In den ersten Jahren sei alles gutgegangen. Ihr Mann hatte eine Hazienda in der Hochebene, und sie hatte sich so sehr an das Leben auf dem Lande gewöhnt, daß sie sehr selten nach La Paz fuhr. Das Gutshaus war sehr bequem, und sie liebte die Ruhe dieses Ortes, das gesunde und einfache Leben. Sie ritt, machte Ausflüge und ging zu den Festen der Indios. Graue Wolken waren aber aufgezogen, weil sie nicht schwanger wurde. Ihr Mann litt sehr unter dem Gedanken, keine Nachkommen zu haben. Dann hatte er angefangen zu trinken, und dann war die Ehe über ein Gefalle von Streitereien, Trennungen und Wiederversöhnungen bis zum allerletzten Streit abgerutscht. Nach der Scheidung waren sie gute Freunde geblieben.
»Wenn ich jemals heirate, werde ich keine Kinder haben«, verkündete ich. »Kinder und Literatur sind unvereinbar.« »Soll das heißen, ich kann meine Bewerbung einreichen und mich anstellen?« kokettierte Tante Julia.
Sie hatte Witz und war schnell mit ihren Antworten, erzählte schlüpfrige Geschichten mit einem gewissen Charme und war (wie alle Frauen, die ich bis dahin kannte) schrecklich unbelesen. Sie machte den Eindruck, als habe sie in den langen, leeren Stunden auf der bolivianischen Hazienda nur argentinische Zeitschriften gelesen, das eine oder andere Produkt von Delly und ein paar Romane, die sie für erwähnenswert hielt: »Der Araber« und »Der Sohn des Arabers« von irgendeinem H. M. Hüll. Als ich mich an diesem Abend verabschiedete, fragte ich sie, ob wir denn ins Kino gehen könnten, und sie sagte: »Das ja.« Seitdem waren wir fast täglich in die Nachtvorstellung gegangen und hatten nicht nur eine Menge mexikanischer und argentinischer Melodramen über uns ergehen lassen, sondern auch noch eine beachtliche Zahl von Küssen ausgetauscht. Das Kino wurde schließlich zum Vorwand. Wir wählten die Kinos, die am weitesten vom Haus in der Armendáriz entfernt lagen (das Monte Carlo, das Colina, das Marsano), um länger zusammenzusein. Wir machten lange Fußmärsche nach der Vorstellung und machten »Täschchen« (sie hatte mir erzählt, daß in Bolivien sich an den Händen halten »Täschchen machen« heißt). Wir gingen kreuz und quer durch die leeren Straßen von Miraflores (jedes Mal, wenn ein Fußgänger oder ein Auto vorbeikam, ließen wir uns los), sprachen über alles mögliche, während der Nieselregen – es war diese unbestimmte Jahreszeit, die man in Lima Winter nennt – uns klamm und feucht werden ließ. Tante Julia ging mit ihren zahlreichen Verehrern immer zum Mittagessen oder zum Tee und hielt die Abende für mich frei. Wir gingen ins Kino und setzten uns in die letzte Reihe im Parkett, wo wir uns, besonders bei sehr schlechten Filmen, küssen konnten, ohne von anderen Zuschauern gestört zu werden und ohne daß irgendwer uns erkannte. Unsere Beziehung hatte sich rasch im Amorphen stabilisiert. Sie war etwas, das unbestimmbar zwischen den gegensätzlichen Kategorien von Verliebten und Geliebten lag. Das war ein häufiges Thema unserer Gespräche. Wir hatten von Geliebten die Heimlichkeit, die Furcht vor dem Entdecktwerden, das Gefühl des Risikos. Aber wir waren es nur im Geiste, nicht in der Sache, denn wir schliefen nicht miteinander. (Und wie Javier später entsetzt feststellte, »berührten wir, uns nicht einmal«.) Von den Verliebten hatten wir den Respekt vor bestimmten klassischen Riten der miraflorinischen Pärchen jener Zeit (ins Kino gehen, sich während der Vorstellung küssen, Hand in Hand durch die Straßen gehen) und das keusche Verhalten. (In jener Steinzeit pflegten die Mädchen von Miraflores noch als Jungfrauen in die Ehe zu gehen, und sie ließen sich nur an den Brüsten oder
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