Tante Julia und der Kunstschreiber
dieser Spaß eine Erzählung, eine Krawatte und ein fast neues Hemd, und außerdem mußte ich Tante Julia zum zweitenmal versetzen. Bevor der chilenische Bolero-Sänger ankam, hatte ich in den Zeitungen eine Vielzahl von Photos und lobenden Artikeln gesehen. (»Reklame, die nichts kostet ist die beste«, sagte Genaro jun.) Aber erst, als ich die langen Schlangen von Frauen in der Calle Belén sah, die nach Eintrittskarten anstanden, begriff ich das ganze Ausmaß seines Ruhms. Da das Studio sehr klein war – etwa 100 Plätze –, konnten nur wenige dem Programm beiwohnen. Am Abend vor der Premiere war der Andrang vor den Toren von Panamericana so gewaltig, daß Pascual und ich durch ein Nebengebäude, dessen Dachterrasse in unsere überging, zu unserem Verschlag hinauffahren mußten. Wir machten die 9-Uhr-Nachrichten fertig, und es gelang uns dann nicht mehr, in den zweiten Stock hinunterzukommen.
»Ein Knäuel von Frauen verstopft die Treppe, die Tür und den Fahrstuhl«, sagte Pascual. »Ich habe höflich versucht durchzukommen, aber sie hielten mich für einen Vordrängler.« Ich rief Genaro jun. an, und der sprühte vor Glückseligkeit:
»Noch eine Stunde bis zur Sendung mit Lucho, und die Leute haben schon den Verkehr in der Belén lahmgelegt. Ganz Peru hört in diesem Augenblick Panamericana.« Ich fragte, ob wir angesichts der Dinge, die da kommen würden, die /-Uhr- und die 8-Uhr-Nachrichten opfern sollten, aber er wußte für alles einen Ausweg und meinte, wir sollten den Sprechern die Nachrichten per Telephon diktieren. Das taten wir. In der Zwischenzeit lauschte Pascual hingerissen der Stimme von Lucho Gatica im Radio, und ich las die vierte Version meiner Erzählung über den Eunuch-Senator, der ich einen Titel aus einem Horror-Roman gegeben hatte: »Das zerstörte Gesicht«. Punkt 9 Uhr hörten wir das Ende des Programms, die Stimme von Martinez Morosini, die Lucho Gatica verabschiedete, und die Ovationen des Publikums, die dieses Mal nicht von der Platte kamen, sondern echt waren. Zehn Sekunden später klingelte das Telephon, und ich hörte die aufgeregte Stimme von Genaro jun.: »Kommt auf irgendeine Weise runter, das hier wird ganz übel.«
Es kostete uns große Mühe, die Mauer der auf der Treppe zusammengepreßten Frauen zu durchbrechen, die der korpulente Pförtner Jesusito vor der Tür zum Studio festhielt. Pascual schrie: »Ambulanz! Ambulanz! Wir müssen einen Verletzten abholen!«
Die Frauen, es waren vorwiegend junge, sahen uns völlig gleichgültig an oder lächelten, gingen aber nicht auseinander, man mußte sie stoßen. Drinnen erwartete uns ein verwirrendes Schauspiel: Der gefeierte Künstler forderte Polizeischutz. Er war sehr klein, sehr blaß und voller Haß auf seine Verehrerinnen. Der fortschrittliche Unternehmer versuchte, ihn zu beruhigen. Er sagte, es würde einen furchtbar schlechten Eindruck machen, wenn man die Polizei riefe. Diese Trauben von jungen Mädchen seien schließlich eine Ehrenerweisung gegenüber seinem Talent. Aber die Berühmtheit ließ sich nicht überzeugen:
»Die kenne ich«, sagte er halb verängstigt, halb wütend. »Sie fangen damit an, um Autogramme zu betteln, und zum Schluß kratzen und beißen sie einen.«
Wir lachten, aber die Wirklichkeit bestätigte seine Voraussagen. Genaro jun. entschied, wir sollten eine halbe Stunde warten, denn er glaubte, die gelangweilten Bewunderinnen würden dann gehen. Um viertel nach zehn (ich hatte eine Kino-Verabredung mit Tante Julia) waren wir es leid, darauf zu warten, daß sie müde würden, und beschlossen zu gehen. Genaro jun., Pascual, Jesusito, Martinez Morosini und ich bildeten einen Kreis, hielten uns an den Armen und nahmen die Berühmtheit in die Mitte, deren Blässe in Kalkweiß überging, als wir die Tür öffneten. Die ersten Stufen konnten wir ohne große Schäden hinuntergehen, indem wir mit den Ellenbogen, den Knien, den Köpfen und der Brust gegen das weibliche Meer anstießen, das sich im Augenblick damit begnügte, zu applaudieren, zu seufzen und die Hände auszustrecken, um das Idol zu berühren – es war schneeweiß geworden, lächelte und murmelte zwischen den Zähnen: »Vorsicht, laßt eure Arme nicht los, Freunde« –, aber plötzlich mußten wir uns einem regelrechten Angriff stellen. Sie packten uns bei den Anzügen, schüttelten uns, und unter wildem Geheul streckten sie die Krallen aus, um Fetzen von Hemd und Anzug ihres Idols abzureißen. Als wir nach zehn Minuten Erstickungstod und
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