Tante Julia und der Kunstschreiber
völlig uninteressierten Schritten zwischen ihnen. »Seit zwei Stunden kaut er an diesem Stück Brot«, sagte Arévalo. »Heute abend, als man ihn aus Lima zurück brach te, haben wir ihm das ganze alte Brot aus der Speisekam mer gegeben, das schon steinhart war. Er hat alles aufge gessen. Er kaut wie eine Mühle. Ein verdammter Hunger, was?« Erst die Pflicht, dann das Gefühl, dachte Lituma. Er achtete auf seinen Weg. Galle Carlos Concha bis Calle Contralmirante Mora und dann die Avenida bis zum Rfmac hinunter und am Fluß entlang bis ans Meer. Eine dreiviertel Stunde hin und zurück, höchstens eine Stunde.
»Sie sind schuld an allem, Herr Wachtmeister«, grunzte Arévalo. »Wer hat Ihnen befohlen, den Kerl zu fangen? Als Sie merkten, daß er kein Dieb ist, hätten Sie ihn laufen lassen sollen. Jetzt sehen Sie, was Sie uns eingebrockt haben. Glauben Sie, was die da oben denken, ich meine, daß der auf einem Schiff versteckt hier angekommen ist?«
»Das hat Pedralbes auch gedacht«, sagte Lituma. »Es kann schon sein. Warum nicht; wie zum Teufel erklärst du dir sonst, wie ein Kerl mit diesem Aussehen, diesem Haar, mit diesen Narben und splitternackt und noch dazu mit diesem Kauderwelsch, mir nichts dir nichts im Hafen von Callao auftaucht. Es wird schon so sein, wie sie sagen.«
In der dunklen Straße hallten die beiden Stiefelpaare der Polizisten wider; die nackten Füße des Negers machten kein Geräusch. »Wenn es nach mir ginge, ich hätte ihn im Gefängnis gelassen«, fing Arévalo wieder an. »Ein Wilder aus Afrika kann doch nichts dafür, Herr Wachtmeister, daß er ein Wilder aus Afrika ist.«
»Genau deswegen kann er nicht im Gefängnis bleiben«, murmelte Lituma. »Du hast ja den Hauptmann gehört: das Gefängnis ist für Diebe, Mörder und Straßenräuber. Weswegen soll der Staat ihn im Gefängnis behalten?«
»Dann sollte man ihn in sein Land zurückschicken«, maulte Arévalo.
»Und wie, zum Teufel, soll man herausfinden, welches sein Land ist?« Lituma hob die Stimme. »Du hast doch den Hauptmann gehört. Die da oben haben versucht, mit ihm zu sprechen, in allen Sprachen, auf englisch, auf französisch, sogar auf italienisch. Er spricht keine Sprachen. Er ist wild.« »Das heißt also, Sie finden es ganz in Ordnung, daß wir ihm, bloß weil er wild ist, eine Kugel in den Kopf jagen sollen«, grunzte Manzanita Arévalo.
»Ich habe nicht gesagt, daß ich das in Ordnung finde«, murmelte Lituma. »Ich habe nur wiederholt, was der Hauptmann gesagt hat, was die da oben gesagt haben. Sei nicht so dämlich.«
Sie bogen in die Avenida Contralmirante Mora, als die Glocken von Nuestra Senora del Carmen de la Légua 12. Uhr schlugen, und es klang unheimlich. Lituma sah krampf haft geradeaus, aber hin und wieder, gegen seinen Willen, wandte er den Kopf nach links und warf dem Neger einen Blick zu. Wenn sie an dem traurigen Licht stumpf einer Laterne vorbeigingen, sah er ihn eine Sekunde lang, und der Neger sah immer gleich aus. Er bewegte ernsthaft die Kiefer und ging im Rhythmus dazu, ohne das geringste Anzeichen von Angst. Für ihn scheint das Kauen das Wichtigste auf der Welt zu sein, dachte Lituma. Und einen Augenblick später: Er ist ein zum Tode Verurteilter, ohne zu wissen, daß er es ist. Und fast gleichzeitig: Er ist tatsächlich ein Wilder. Da hörte er Manzanita:
»Zum letztenmal, warum lassen ihn die da oben nicht einfach laufen und sich irgendwie durchschlagen«, haderte er wütend. »Noch ein Landstreicher, bei den vielen, die es in Lima schon gibt. Einer mehr oder weniger, was macht das schon.« »Du hast den Hauptmann gehört«, erwiderte Lituma. »Die Guardia Civil darf nicht die Kriminalität fördern, und wenn du den da frei herumlaufen läßt, hat er doch gar keine andere Wahl, als zu stehlen oder wie ein Hund zu krepieren. In Wirklichkeit tun wir ihm einen Gefallen. Ein Schuß ist eine Sekunde. Das ist besser, als nach und nach an Hunger, Frost, Einsamkeit und Traurigkeit eingehen.« Aber Lituma merkte, daß seine Stimme nicht sehr überzeugend klang, und er hatte das Gefühl, einer anderen Person zuzuhören.
»Wie auch immer, lassen Sie mich nur eines sagen«, hörte er Manzanita aufbegehren. »Diese Sauerei gefällt mir nicht, und Sie haben mir einen schlechten Dienst erwiesen, als Sie mich mitgenommen haben.«
»Glaubst du, mir gefällt es?« murmelte Lituma. »Und die da oben, haben die mir vielleicht keinen schlechten Dienst erwiesen, als sie mich ausgesucht haben?«
Sie
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