Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
wilden Stößen in den Eingangsflur vordrangen, glaubte ich, nun würden wir uns loslassen, und hatte eine Vision: der kleine Bolero-Sänger wurde uns entrissen und von seinen Anhängerinnen vor unseren Augen zerfetzt. Das geschah jedoch nicht. Aber als wir ihn in das Auto von Genaro sen. schoben, der seit eineinhalb Stunden am Steuer gewartet hatte, waren wir, Lucho Gatica und seine Leibgarde, zu Überlebenden einer Katastrophe geworden. Mir hatten sie die Krawatte abgerissen und das Hemd zerfetzt, Jesusito die Uniform zerfleddert und die Mütze gestohlen, und Genaro jun. hatte einen blauen Fleck auf der Stirn von einem Schlag mit einer Handtasche. Der Star selbst war unverletzt, aber von seiner Kleidung waren nur noch die Schuhe und die Unterhose heil. Am nächsten Tag, als wir unseren 10-Uhr-Kaffee im Bransa tranken, erzählte ich Pedro Camacho von der Gewalttätigkeit der Verehrerinnen. Es überraschte ihn überhaupt nicht:
    »Mein junger Freund«, sagte er philosophisch und sah mich von sehr weit her an, »auch die Musik erreicht die Seele der Menge.«
    Während ich um die körperliche Unversehrtheit von Lucho Gatica kämpfte, hatte Frau Agradecida in unserem Dachverschlag saubergemacht und die vierte Version meiner Erzählung über den Senator in den Papierkorb geworfen. Statt mich zu grämen, fühlte ich mich von einer Last befreit und sah darin ein Zeichen der Götter. Als ich Javier mitteilte, ich würde sie nicht noch einmal schreiben, beglückwünschte er mich zu dieser Entscheidung, statt zu versuchen, mich davon abzubringen. Tante Julia amüsierte sich köstlich über meine Erfahrungen als Leibwächter. Seit jener Nacht der flüchtigen Küsse im Grill Bolivar sahen wir uns fast täglich. Am Tag nach Onkel Luchos Geburtstag war ich spontan zum Haus in der Armendariz gegangen, und zum Glück war Tante Julia allein.
    »Sie sind zu einem Besuch bei deiner Tante Hortensia«, sagte sie und ließ mich in den Salon eintreten. »Ich bin nicht mitgegangen, weil ich weiß, daß diese Klatschbase ständig Geschichten über mich erfindet.«
    Ich nahm sie um die Taille, zog sie an mich und ver suchte sie zu küssen. Sie stieß mich nicht zurück, küßte mich aber auch nicht. Ich spürte ihren kühlen Mund an meinem. Als ich sie losließ, bemerkte ich, daß sie mich ohne zu lächeln ansah. Nicht überrascht, wie am Abend vorher, eher mit einer gewissen Neugier und leichtem Spott.
    »Sieh mal, Marito«, ihre Stimme war herzlich und ruhig. »Ich habe allen Blödsinn der Welt in meinem Leben gemacht, aber diesen, den werde ich nicht machen.« Sie lachte laut auf: »Ich als Verführerin von Minderjährigen? Das ganz bestimmt nicht!«
    Wir setzten uns und unterhielten uns etwa zwei Stunden lang. Ich erzählte ihr mein ganzes Leben, nicht das vergangene, sondern das zukünftige, wenn ich in Paris leben und Schriftsteller sein würde. Ich sagte ihr, daß ich schreiben wollte, seit ich zum ersten Mal Alexandre Dumas gelesen hatte. Seitdem träumte ich davon, nach Frankreich zu fahren und im Künstlerviertel in einer Mansarde zu wohnen und mich ganz und gar der Literatur, der wunderbarsten Sache der Welt, zu widmen. Ich erzählte ihr, daß ich meiner Familie zuliebe Jura studierte, daß ich den Anwaltsberuf für den schwerfälligsten und dümmsten aller Berufe hielte und daß ich ihn niemals ausüben würde. Plötzlich merkte ich, daß ich sehr erregt sprach, und sagte, daß ich zum ersten Mal diese meine geheimsten Dinge nicht einem Freund gestand, sondern einer Frau.
    »Ich könnte deine Mutter sein, darum möchtest du dich mir anvertrauen«, psychoanalysierte Tante Julia. »Doritas Sohn will also Bohémien werden, o là là. Schlimm ist nur, daß du Hungers sterben wirst, mein Sohn.«
    Sie erzählte mir, daß sie in der vergangenen Nacht nicht hatte schlafen können, weil sie an die flüchtigen Küsse im Grill Bolivar denken mußte. Daran, daß der Sohn von Dorita, der Kleine, den sie erst gestern mit seiner Mutter zur Schule La Salle in Cochabamba gebracht hatte, das Jungchen, von dem sie sich ins Kino hatte ausführen lassen, um nicht allein gehen zu müssen, daß der sie bei der ersten Gelegenheit auf den Mund geküßt hatte, als wäre er ein ausgewachsener Mann, das wolle ihr nicht in den Kopf.
    »Ich bin ein Mann«, versicherte ich ihr, nahm ihre Hand und küßte sie. »Ich bin achtzehn Jahre alt, und schon vor fünf Jahren hab ich die Unschuld verloren.«
    »Und was bin dann ich, zweiunddreißig und hab sie schon vor

Weitere Kostenlose Bücher