Tante Julia und der Kunstschreiber
am Geschlecht berühren, wenn der Liebste formal in den Status des Bräutigams aufgestiegen war.) Aber wie hätten wir das sein können bei dem Altersunterschied und dem Verwandtschaftsgrad? Im Hinblick auf die Zweideutigkeit und Außerordentlichkeit unserer Romanze tauften wir sie im Spiel: »Englische Brautzeit«, »Schwedische Romanze«, »Türkisches Drama«. »Die Liebe eines Babys zu einer Greisin, die außerdem noch so etwas wie seine Tante ist«, sagte Tante Julia eines Nachts zu mir, während wir durch den Parque Central gingen. »Bestens geeignet für eine Hörspielserie von Pedro Camacho.« Ich erinnerte sie daran, daß sie nur eine angeheiratete Tante sei, und sie erzählte mir, daß in dem Hörspiel um 3 Uhr ein Junge von San Isidro, sehr gut aussehend und ein großer Surfer, ein Verhältnis mit niemand geringerem als seiner Schwester hatte, die er, Schrecken aller Schrecken, auch noch geschwängert hatte.
»Seit wann hörst du die Hörspielserien?« fragte ich. »Meine Schwester hat mich angesteckt«, erwiderte sie. »Die von Radio Central sind nämlich phantastisch, gewaltige Dramen, die einem das Herz zerreißen.«
Und sie gestand mir, daß ihr und Tante Olga hin und wieder die Tränen kämen. Das war für mich der erste Beweis für die gewaltige Reaktion auf die Werke aus der Feder von Pedro Camacho in den Häusern von Lima. Ich sammelte in den nächsten Tagen in den Wohnungen meiner Familie noch weitere. Zufällig kam ich zu Tante Laura, und kaum, daß sie mich in der Tür zum Wohnzimmer sah, bedeutete sie mir mit dem Finger an den Lippen, still zu sein, während sie vor dem Radioapparat gebeugt stehenblieb, um nicht nur die (zitternde oder spröde oder feurige oder kristallklare) Stimme des bolivianischen Künstlers zu hören, sondern sie auch zu riechen und zu berühren. Ich kam zu Tante Gaby und fand sie und Tante Hortensia, wie sie mit hingebungsvollen Händen ein Knäuel aufrollten und einem Dialog voller vielsilbiger Worte und Gerundien von Luciano Pando und Josefina Sânchez lauschten. Und sogar bei mir zu Hause hatten meine Großeltern, die immer eine Neigung zum »leichten Roman« gehabt hatten, wie meine Großmutter Carmen zu sagen pflegte, jetzt eine wahrhafte Hörspielleidenschaft entwickelt. Ich wachte morgens auf und hörte die Takte der Erkennungsmelodie des Senders – sie bereiteten sich krankhaft früh auf das erste Hörspiel um 10 Uhr vor –, ich aß zu Mittag und hörte das z-Uhr-Stück, und wann immer ich im Lauf des Tages kam, fand ich die beiden alten Leutchen und die Köchin im Empfangs zimmer zusammensitzend und gebannt dem Radio lauschend, das groß und schwer war wie eine Anrichte und das sie zu allem Unglück immer auf äußerste Lautstärke stellten.
»Warum magst du die Hörspielserien so gern?« fragte ich eines Tages die Großmutter. »Was haben sie, was Bücher, zum Beispiel, nicht haben?«
»Es ist sehr viel lebendiger, wenn man die Menschen sprechen hört, es ist wirklicher«, erklärte sie mir nach kurzem Nachdenken. »Außerdem benimmt sich in meinem Alter das Gehör besser als die Sehkraft.«
Mit ähnlichen Fragen versuchte ich es bei der übrigen Verwandtschaft. Das Ergebnis war unscharf. Tante Gaby, Tante Laura, Tante Olga und Tante Hortensia liebten die Hörspielserien, weil sie unterhaltsam, traurig oder drastisch waren, weil sie sie ablenkten, sie träumen und Dinge erleben ließen, die im wirklichen Leben unmöglich waren, weil sie einige Wahrheiten aufzeigten oder weil sie immer ein bißchen romantisch waren. Als ich sie fragte, warum sie sie lieber mochten als Bücher, protestierten sie: was für ein Unsinn, das könne man doch nicht vergleichen. Bücher, das war Kultur, die Hörspielserien waren ein einfacher Spaß, um die Zeit zu vertreiben. Tatsache war aber, daß sie alle praktisch am Radio klebten und ich keine von ihnen jemals ein Buch öffnen sah. Während unserer nächtlichen Spaziergänge erzählte mir Tante Julia manchmal Episoden, die sie besonders beeindruckt hatten, und ich erzählte ihr von meinen Gesprächen mit dem Schreiber, so daß Pedro Camacho unmerklich ein Teil unserer Romanze wurde. Selbst Genaro jun. bestätigte mir den Erfolg der neuen Hörspielserien an dem Tag, an dem ich endlich nach tausend Beschwerden erreicht hatte, daß man mir meine Schreibmaschine ersetzte.
Er erschien mit einer Aktenmappe in der Hand und mit strahlendem Gesicht in unserem Verschlag: »Er übertrifft die optimistischsten Schätzungen«, sagte er.
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