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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Sekretär sein Wissen zu bereichern. »Zweifellos eine typische Lolita«, urteilte der Richter. Und gute Miene zum bösen Spiel machend – unerschrockener Seewolf,
    der noch aus den Stürmen optimistische Lehren zieht –, fügte er hinzu: »Freuen wir uns darüber, daß der Koloß im Norden auf diesem Gebiet nicht die Exklusivrechte hat. Unsere heimische kann jeder nordamerikanischen Lolita den Mann abspenstig machen.«
    »Man kann verstehen, daß sie den Angestellten aus dem Häuschen gebracht hat und der sie vergewaltigt hat«, meinte der Sekretär. »Wenn man sie gesehen und gehört hat, möchte man schwören, daß sie es war, die ihn entjungfert hat.« »Halt, ich verbiete Ihnen diese Art von Unterstellungen«, mahnte ihn der Richter, und der Sekretär erblaßte. »Keine argwöhnischen Vermutungen. Gumercindo Tello soll hereinkommen.«
    Zehn Minuten später, als er ihn von zwei Polizisten begleitet ins Büro treten sah, begriff Dr. jur. Barreda y Zaldivar sofort, daß die Bezeichnung des Sekretärs verkehrt war. Es handelte sich hier nicht um einen höchst Verdächtigen, sondern in gewisser Weise um etwas viel Schlimmeres, nämlich um einen Gläubigen. Als er das Gesicht von Gumercindo Tello sah, erinnerte sich der Richter mit einem mnemotechnischen Schauer, der ihm die Nackenhaare aufstellte, an den starren Blick des Mannes mit dem Fahrrad und der Zeitschrift »Erwachet«, von dem er Albträume gehabt hatte; dieser ruhig-starrköpfige Blick dessen, der weiß, der keine Zweifel kennt, der alle Probleme gelöst hat. Er war ein junger Mann, der sicher noch keine dreißig Jahre alt war und dessen schwächliche Physis, nur Haut und Knochen, den Winden die Verachtung predigte, die Nahrung und Materie verdienten. Er trug die Haare fast zum Kahlkopf geschoren, war braun und ziemlich klein. Er war nebelgrau gekleidet, weder Dandy noch Bettler, ein Mittelding. Jetzt waren seine Sachen trocken, aber kraus von den Taufen durch Eintauchen. Er trug ein weißes Hemd und eisen beschlagene Stiefel. Dem Richter genügte ein Blick – ein Mann mit anthropologischem Gespür –, um seine hervorstechenden Eigenschaften zu kennen: Verschwie genheit, Nüchternheit, feste Prinzipien, Unbeirrbarkeit und Bekehrertum. Wohlerzogen wünschte er, als er in die Tür trat, dem Richter und dem Sekretär sehr herzlich guten Tag. Dr. jur. Barreda y Zaldivar befahl dem Polizisten, ihm die Handschellen abzunehmen und hinauszugehen. Eine Angewohnheit, mit der er seine juristische Karriere begonnen hatte. Selbst die gefährlichsten Verbrecher hatte er allein verhört, väterlich, ohne Hilfe. Und bei dem Tête-à-tête pflegten sie ihr Herz zu öffnen, wie die Sünder vor dem Beichtvater. Niemals mußte er dieses riskante Verfahren bereuen. Gumercindo Tello rieb sich die Handgelenke und dankte für diesen Vertrauensbeweis. Der Richter wies auf einen Stuhl, und der Mechaniker setzte sich kerzengerade auf den Rand, wie ein Mann, dem schon der bloße Schein von Gemütlichkeit ungemütlich ist. Der Richter formulierte im Geiste die Devise, die wahrscheinlich das Leben der Zeugen Jehovas bestimmte: müde aus dem Bett aufstehen, hungrig vom Tisch und (wenn man überhaupt hinging) vor dem Ende des Films aus dem Kino gehen. Er versuchte, ihn sich von der kindlichen Vampirin aus Victoria mit Banderillas gespickt, entflammt vorzustellen. Aber sofort verbot er sich diese Phantasien als den Rechten der Verteidigung abträglich. Gumercindo Tello hatte angefangen zu sprechen: »Es stimmt, daß wir der Regierung, den Parteien, dem Heer und den anderen sichtbaren Institutionen, die alle Stieftöchter des Satans sind« – das sagte er voller Sanftmut– »nicht dienen, daß wir keinem buntgefärbten Lappen Treue schwören, keine Uniform anziehen, denn weder Flitterkram noch Masken betören uns. Wir dulden auch keine Implantationen von Haut oder Injektionen von Blut, denn das, was Gott gemacht hat, soll die Wissenschaft nicht zerstören. Aber das alles soll nicht heißen, daß wir nicht unsere Pflicht erfüllen. Herr Richter, ich stehe Ihnen zu Diensten für alles, was Sie von mir wollen, und seien Sie versichert, ich werde nicht einmal, wenn ich Grund dazu hätte, Ihnen gegenüber respektlos sein.« Er sprach langsam mit Pausen, als wollte er dem Sekretär die Arbeit erleichtern, der alle seine Äußerungen mit dem Geklapper der Schreibmaschine begleitete. Der Richter dankte ihm für sein liebenswürdiges Entgegenkommen und ließ ihn wissen, daß er alle Ideen und

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