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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Glaubensrichtungen respektiere, ganz besonders, wenn es um religiöse gehe, und er erlaube sich, ihn daran zu erinnern, daß er nicht seines Glaubens wegen verhaftet worden sei, sondern unter der Anklage, eine Minderjährige geschlagen und vergewaltigt zu haben.
    Ein entrücktes Lächeln zog über das Gesicht des Burschen aus Monquegua.
    »Zeuge ist, wer Zeugnis ablegt, wer bezeugt, wer überzeugt«, entwickelte er seine semantischen Kenntnisse und sah den Richter dabei fest an. »Der weiß, daß es Gott gibt, und es andere wissen läßt, der die Wahrheit kennt und sie bekannt macht. Ich bin ein Zeuge, und Sie beide könnten es mit etwas gutem Willen auch sein.«
    »Danke, bei anderer Gelegenheit«, unterbrach ihn der Richter, hob die umfangreiche Akte und hielt sie ihm vor die Nase, als wäre sie ein Leckerbissen. »Die Zeit drängt, und hierauf kommt es an. Kommen wir zum Kern der Sache, und gleich ein Rat: es ist ratsam und für Sie am günstigsten, die reine Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu sagen.«
    Der Angeklagte seufzte tief auf, von irgendeiner geheimen Erinnerung bewegt.
    »Die Wahrheit, die Wahrheit«, murmelte er voller Trauer. »Welche, Herr Richter? Handelt es sich nicht vielmehr um jene Verleumdungen, um jene Schmuggel ware, jenen vatikanischen Aberglauben, den sie uns, die Einfalt des einfachen Volkes ausnutzend, als Wahrheit verkaufen wollen? Bescheidenheit beiseite, ich glaube, daß ich die Wahrheit kenne, aber ich frage Sie, ohne Sie beleidigen zu wollen, kennen Sie sie?« »Ich nehme mir vor, sie kennenzulernen«, sagte der Richter klug und klopfte auf den Aktendeckel.
    »Die Wahrheit über die Phantastereien über das Kreuz, über den Scherz von Petrus und dem Stein, über die Mitren, vielleicht über diesen päpstlichen Scherz von der Unsterblichkeit der Seele?« fragte sich sarkastisch Gumercindo Tello. »Die Wahrheit über das von Ihnen begangene Verbrechen, die minderjährige Sarita Huanca Salaverria mißbraucht zu haben«, erwiderte der Richter. »Die Wahrheit über jenen Überfall auf ein unschuldiges dreizehnjähriges Mädchen. Die Wahrheit über Schläge, die Sie ihr verpaßten, über die Drohungen, mit denen Sie sie erschreckten, über die Notzucht, mit der Sie sie erniedrigt und vielleicht geschwängert haben.«
    Die Stimme des Richters hatte sich anklagend und olympisch erhoben. Steif auf dem Stuhl sitzend, sah ihn Gumercindo Tello sehr ernst an, ohne ein Zeichen von Verlegenheit oder Reue.
    Schließlich schüttelte er den Kopf mit der Sanftmut eines Schlachttieres:
    »Ich bin auf jede Prüfung, die mir Jehova auferlegt, vorbereitet«, versicherte er.
    »Es geht hier nicht um Gott, sondern um Sie«, holte ihn der Richter auf die Erde zurück. »Um Ihre Gelüste, um Ihre Ausschweifungen, um Ihre Libido.«
    »Es geht immer um Gott, Herr Richter«, bäumte Gumercindo Tello sich auf. »Niemals um Sie, niemals um mich, niemals um irgendeinen. Um IHN, nur um IHN.«
    »Seien Sie doch vernünftig«, forderte ihn der Richter auf. »Halten Sie sich an die Fakten. Geben Sie Ihr Vergehen zu, und das Gericht wird vielleicht Verständnis zeigen. Betragen Sie sich wie ein religiöser Mann, der zu sein Sie mir beweisen wollen.« »Ich bereue alle meine Vergehen, und es sind unendlich viele«, sagte Gumercindo Tello schwermütig. »Ich weiß sehr wohl, daß ich ein Sünder bin, Herr Richter.«
    »Schön, nun die Fakten«, belohnte ihn Dr. jur. Barreda y Zaldivar. »Schildern Sie sie ohne morbide Umschweife und Wehleidigkeit. Wie haben Sie das Mädchen vergewaltigt?« Aber der Zeuge war bereits in Schluchzen ausgebrochen und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Der Richter ließ sich nicht rühren. Er war die plötzlichen zyklothymen Ausbrüche der Angeklagten gewöhnt und wußte sie für die Untersuchung der Fakten auszunutzen. Als er Gumercindo Tello so sah, den Kopf gesenkt, den Körper geschüttelt, die Hände feucht von Tränen, sagte sich Dr. jur. Barreda y Zaldivar – nüchterner beruflicher Stolz, der wieder einmal die Wirksamkeit seiner Technik feststellt –, daß der Angeklagte an der emotionalen Klimax angelangt sei, an der er unfähig zur Täuschung sei und begierig, spontan und genauestens die Wahrheit berichten würde. »Fakten, Fakten«, insistierte er. »Fakten, Orte, Positionen, Worte, Handlungen. Los, nur Mut.«
    »Ich kann nicht lügen, Herr Richter«, stotterte Gumercindo Tello unter Schluckauf. »Ich bin bereit, alles zu erleiden, Beleidigungen, Gefängnis, Entehrung. Aber ich

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