Tante Lisbeth (German Edition)
Künstlern, die wegen ihres zügellosen Lebens berüchtigt waren, hatte sie aufgeregt.
Als Stanislaus am andern Morgen um neun Uhr ausging, war Hortense völlig beruhigt.
Jetzt ist er an der Arbeit, sagte sie sich, indem sie ihr Kind fertig anzog. Ach, ich sehe ihn vor mir. Er ist Feuer und Flamme. Wenn er auch kein Michelangelo ist, ein Benvenuto Cellini ist er!
Voller selbstgeschaffener Hoffnungen glaubte sie an eine glückliche Zukunft. Sie plauderte mit ihrem zwanzig Monate alten Söhnchen in jener lautmalerischen Sprache, bei der kleine Kinder fröhlich werden, als gegen elf Uhr die Köchin, die des Hausherrn Weggang nicht bemerkt hatte, Stidmann einließ.
»Verzeihung, gnädige Frau!« sagte der Künstler. »Was? Stanislaus ist bereits ausgegangen?«
»Er ist in seinem Atelier.«
»Ich wollte mit ihm wegen unserer Arbeiten sprechen.«
»Ich werde ihn holen lassen«, schlug Hortense vor, indem sie Stidmann zum Sichsetzen einlud. Der Künstler verbeugte sich, dankbar ob dieser Gunst. Die junge Frau, über den Zufall hocherfreut, wollte Stidmann über die Einzelheiten des vergangenen Abends ausforschen. Sie läutete. Die Köchin erschien und erhielt den Auftrag, den Herrn im Atelier aufzusuchen.
»Sie haben sich gestern gut unterhalten?« fragte Hortense. »Mein Mann ist erst heute früh um ein Uhr heimgekommen.«
»Gut unterhalten?« ¦wiederholte Stidmann. »Nicht besonders.« Er hatte sich am Abend vorher Frau Marneffe erobern wollen. »Man amüsiert sich in der Gesellschaft nur, wenn man was Besonderes von ihr will! Diese kleine Frau Marneffe ist ja sehr witzig, aber sie ist kokett... .«
»Und wie denkt mein Mann über sie?« Die arme Hortense suchte ihre Haltung zu bewahren. »Er hat mir gar nichts von ihr berichtet.«
»Ich kann Ihnen nur eins sagen, gnädige Frau. Ich halte sie für überaus gefährlich.«
Hortense wurde totenbleich.
»So, so! Bei Frau Marneffe ... nicht bei Chanor.. . waren Sie zum Diner... gestern ... und mein Mann ...«
Stidmann begann zu merken, daß er ahnungslos Unheil angerichtet hatte. Die Gräfin kam mit ihrem Satze nicht zu Ende. Sie fiel in Ohnmacht. Stidmann klingelte. Das Stubenmädchen erschien. Als man versuchte, die Ohnmächtige in ihr Zimmer zu tragen, bekam sie einen starken Nervenkrampf, der sich in schrecklichen Zuckungen äußerte. Stidmann maß seiner unbeabsichtigten Indiskretion keine besondere Tragweite zu; er glaubte, die Gräfin befände sich in jenem gewissen krankhaften Zustand, wo die leichteste Aufregung gefährliche Folgen haben kann.
Unglücklicherweise vermeldete die Köchin mit lauter Stimme, der gnädige Herr sei nicht im Atelier. Die Gräfin vernahm die Worte und verfiel einem neuen Anfall.
»Holen Sie die Frau Mutter der gnädigen Frau!« bat das Stubenmädchen die Köchin. »Eilen Sie!«
»Wenn ich wüßte, wo Stanislaus ist, würde ich ihn benachrichtigen«, sagte Stidmann voll Verzweiflung.
»Er ist bei diesem Weibe!« rief die arme Hortense aus. »Er hat sich ganz anders angezogen, als wenn er in sein Atelier geht.«
Stidmann stürzte zu Frau Marneffe. Er hatte sofort erkannt, daß Hortense – dank dem zweiten Gesicht der Leidenschaft – das Richtige ahnte. In der Tat stand Valerie dem Künstler eben Modell zu seiner Delila.
In der Rue Vanneau rannte er an der Portierstube vorbei. Wenn ich nach Frau Marneffe frage, sagte er sich, meldet man mir, sie sei nicht da. Frage ich nach Steinbock, wird man mich auslachen. Machen wir kurzen Prozeß!
Valeries Kammermädchen öffnete ihm.
»Sagen Sie dem Grafen Steinbock, er solle nach Haus kommen. Seine Frau läge im Sterben!«
Regina, genauso schlau wie Stidmann, machte ein dummes Gesicht.
»Ich weiß nicht, Herr... .«
Stidmann brüllte sie an:
»Ich sage Ihnen, mein Freund Steinbock ist hier. Seine Frau stirbt. Die Angelegenheit ist wohl wichtig genug, daß Sie Ihre Herrin stören!«
Stidmann ging.
Natürlich steckt er bei ihr! sagte er sich.
Er blieb in der Rue Vanneau stehen. In der Tat sah er den Freund einige Augenblicke später aus dem Hause kommen. Der Pole winkte ihn heran. Stidmann berichtete ihm den traurigen Vorfall und machte ihm Vorwürfe, daß er ihn nicht davon verständigt habe, über das Diner am Abend vorher Stillschweigen zu bewahren.
»Ich bin verloren!« rief Steinbock aus. »Du kannst nichts dafür. Ich hatte ganz vergessen, daß wir uns für diesen Vormittag verabredet haben. Es war ein Fehler von mir, dir nicht zu sagen, daß wir bei Florent zum
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