Tante Lisbeth (German Edition)
angesichts eines galanten Seitensprungs jedesmal die Gattin in die Quere kommt.
Stanislaus kam gegen ein Uhr nachts nach Hause. Seit etwa halb zehn erwartete ihn Hortense. Von halb zehn bis zehn lauschte sie auf das Rollen der Wagen. Wenn er bei Chanor & Florent zu Tisch war, kam er nie so spät heim. Sie nähte neben der Wiege ihres Söhnchens. Seit kurzem sparte sie die Näherin, indem sie gewisse Ausbessereien selber machte. Von zehn bis halb elf Uhr hing sie argwöhnischen Vermutungen nach. Sie fragte sich:
Ist er denn wirklich, wie er mir gesagt hat, bei Chanor & Florent zum Diner? Er hat beim Ankleiden nach seiner feinsten Krawatte und nach seiner schönsten Krawattennadel verlangt. Er hat zu seiner Toilette genauso viel Zeit verwendet wie eine Frau, die schöner erscheinen will, als sie ist ... Ich bin wahnsinnig! Er liebt mich doch! Da kommt er übrigens!
Aber der Wagen, den die junge Frau gehört hatte, rollte vorüber, statt zu halten. Von elf Uhr bis Mitternacht hatte sie unerhörte Angstanfälle, verursacht durch die Einsamkeit ihrer Wohnung.
Wenn er zu Fuß gegangen ist, sagte sie sich, kann ihm irgendein Unfall zugestoßen sein! Künstler sind so unaufmerksam. Oder Gauner haben ihn festgehalten ... Das ist das erstemal, daß er mich sechseinhalb Stunden lang hier allein läßt! Warum quäle ich mich? Er liebt doch nur mich!
Die Männer sollten Frauen, von denen sie geliebt werden, treu bleiben, und wäre es auch nur ob der unaufhörlichen Wunder, die in der erhabenen Welt der Seelen durch die Liebe vollbracht werden. Die Liebe bringt das Nervensystem einer Frau in einen visionären Zustand. Eine Frau, die sich verraten glaubt, hört nicht mehr auf sich selbst. Sie zweifelt und liebt. Sie leugnet ihre eigene Zauberkraft. Dieses Überirdische an der Liebe verdient Verehrung, und dem höheren Menschen wird die Bewunderung der göttlichen Erscheinung immer zu einer Art Schranke, die ihn von der Untreue abhält. Man muß ein schönes kluges Wesen anbeten, wenn es eine solche wunderbare Seele zeigt.
Ein Uhr nachts erkannte Hortense, auf dem Höhepunkt ihrer Ängste, an der Art des Klingelns, daß es Stanislaus war. Sie sank ihm in die Arme.
»Endlich bist du da!« rief sie aus, als sie wieder sprechen konnte. »Fortan werde ich überallhin mitgehen, wo du hingehst. Ein zweites Mal will ich die Folter des Wartens nicht erdulden. Ich habe dich im Geiste verunglückt, gemordet gesehen! Ein zweites Mal würde ich wahnsinnig werden. Ich fühle es... . Hast du dich denn gut amüsiert? Ohne mich? Du böser Mann!«
»Was willst du, mein Engelchen? Bixiou war mit da. Es gibt neue Aufträge. Leon von Lora, geistsprudelnd wie immer. Claude Vignon. Ihm schulde ich den einzigen trostreichen Aufsatz, der über mein Montcornet-Denkmal veröffentlicht worden ist. Dann waren... .«
»Waren Damen da?« fragte Hortense lebhaft.
»Die biedere Frau Florent... .«
»Du hast mir gesagt, das Diner fände im ›Rocher de Cancale‹ statt. So war es also im Hause?«
»So? Habe ich das gesagt? Es war im Hause... .«
»Du hast keine Droschke genommen?«
»Nein.«
»Bist zu Fuß von der Rue des Tournelles gekommen?«
»Stidmann und Bixiou haben mich über die Boulevards bis zur Madeleine begleitet. Wir haben geplaudert.«
»So waren die Boulevards doch trocken, die Place de la Concorde und die Rue de Bourgogne, denn du bist nicht schmutzig geworden«, meinte Hortense, indem sie die Schuhe ihres Mannes musterte.
Es hatte geregnet, aber von der Rue Vanneau bis zur Rue Saint-Dominique konnte sich Steinbock die Stiefel nicht beschmutzen.
»Sieh, hier sind fünftausend Francs, die mir Chanor großmütig geliehen hat«, sagte er, um diesem richtigen Verhör zu entgehen. Er hatte aus den zehntausend Francs zwei Päckchen gemacht, eins für Hortense und eins für sich, denn er hatte fünftausend Francs Schulden, von denen Hortense nichts wußte. Er schuldete seinem Werkmeister und seinen Arbeitern Lohn.
»Du kannst also ganz ruhig sein, Beste«, sagte er und küßte seine Frau. »Morgen gehe ich ans Werk. Jawohl! Morgen stehe ich halb neun auf und gehe sofort ins Atelier. So, ich gehe jetzt sogleich schlafen, damit ich zeitig aufstehen kann. Du erlaubst es mir, Kätzchen?«
Der Argwohn in Hortenses Herzen war verflogen; sie war himmelweit von der Wahrheit entfernt. Frau Marneffe! An die dachte sie nicht. Hinsichtlich ihres Stanislaus hatte sie nur Angst vor Kokotten. Die Erwähnung von Bixiou und Leon von Lora, zwei
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