Tante Lisbeth (German Edition)
Mariette ihrem Brotherrn zu, »er hat mir gesagt, ich soll ganz leise melden, daß es sich um Ihren Herrn Onkel handle.«
Der Baron erbebte. Er dachte daran, es könne sich um das Geld handeln, um das er vor zwei Monaten heimlich gebeten hatte, damit er seine Wechsel bezahlen könne. Er verließ seine Familie und eilte in das Vorzimmer, wo er ein Elsässer Gesicht erblickte.
»Der Herr Baron von Hulot?«
»Ja ....«
»Er selbst?«
»Er selbst!«
Der Unteroffizier, der während dieser Unterredung im Futter seines Käppis nachgesucht hatte, zog einen Brief heraus, den der Baron hastig erbrach.
Er las folgendes:
»Lieber Neffe!
Weit entfernt, Dir die erbetenen hunderttausend Francs zu schicken, muß ich Dir vielmehr melden, daß meine Position nicht mehr haltbar ist, wenn Du nicht tatkräftige Maßregeln zu meiner Rettung ergreifst. Wir haben hier einen Staatsanwalt auf dem Halse, der den Moralkoller hat und der Verwaltung alles mögliche vorwirft. Der Philister ist unmöglich zum Schweigen zu bringen. Wenn sich das Kriegsministerium von solchen Schwarzröcken ins Handwerk pfuschen läßt, dann bin ich verloren. Der Überbringer ist zuverlässig. Suche ihn zu protegieren, denn er hat uns Dienste geleistet. Laß mich nicht im Stich!
Dein getreuer Onkel
Hans Fischer.«
Dieser Brief wirkte wie ein Blitzschlag. Der Baron sah sich jenen Reibungen gegenüber, die noch heute die algerische Verwaltung abwechselnd eine Beute der Zivil- und der Militärbeamten werden lassen. Es galt für ihn, unverzüglich eine Abwehr der Gefahr zu finden. Er befahl dem Soldaten, am nächsten Tage wiederzukommen, und nachdem er ihn nicht ohne Versprechungen auf Beförderung verabschiedet hatte, kehrte er in den Salon zurück.
»Guten Tag, lieber Bruder, und auf Wiedersehen!« sagte er zum Marschall. »Lebt wohl, Kinder! Laß es dir gut gehen, liebe Adeline! – Und was wird aus dir, Lisbeth?«
»Aus mir? Ich werde dem Marschall die Wirtschaft führen. Es ist nun einmal bis zu allerletzt mein Beruf, euch zu dienen, dem einen oder dem andern.«
»Verlaß Valerie nicht, ehe ich dich noch einmal gesehen habe!« flüsterte Hulot der alten Jungfer zu. »Lebe wohl, Hortense, kleine Widerspenstige! Versuche, recht vernünftig zu sein! Ich habe unvermutet ernste Angelegenheiten. Wir kommen auf die Frage deiner Aussöhnung zurück. Vergiß das nicht, mein liebes Kind!«
Bei diesen Worten küßte er sie.
Er verließ Frau und Kinder so sichtlich erregt, daß sie in die heftigste Angst gerieten.
»Lisbeth«, sagte die Baronin, »wir müssen wissen, was Hektor hat. Noch nie habe ich ihn in ähnlicher Verfassung gesehen. Bleibe noch zwei bis drei Tage bei Frau Marneffe. Ihr sagt er alles, und so können wir erfahren, was ihn so plötzlich umgewandelt hat. Sei ruhig, deine Heirat mit dem Marschall wird zustande gebracht, denn sie ist sehr notwendig!«
»Ich werde den Mut nie vergessen, den du am heutigen Vormittag gezeigt hast!« sagte Hortense und küßte Lisbeth.
»Du hast unsere arme Mutter gerächt!« fügte Viktor hinzu.
Der Marschall beobachtete mit neugieriger Miene die an Lisbeth verschwendeten Liebesbeweise, die nichts eiliger hatte, als alles das ihrer Valerie zu berichten.
In Paris ist jedes Ministerium eine kleine Stadt, nur ohne Frauen; aber Klatsch und Verleumdung sind doch zu Hause, ganz als ob auch dort weibliche Wesen wären. Nach drei Jahren war Marneffes Stellung sozusagen ein offenes Geheimnis, und man fragte sich in den Kanzleien: »Wird Marneffe Coquets Nachfolger oder nicht?« Man beobachtete die geringsten Veränderungen des Beamtenpersonals; man ließ kein Auge ab von dem, was in Baron Hulots Abteilung vor sich ging. Der kluge Staatsrat hatte den Beamten, der eigentlich in Coquets Stelle hätte rücken müssen, auf seine Seite gezogen, indem er diesem tüchtigen Arbeiter gesagt hatte, wenn er für Marneffe einträte, werde er unfehlbar dessen Nachfolger. Marneffe sei ein Todeskandidat. Seitdem intrigierte der Betreffende zu Marneffes Vorteil.
Als Hulot sein Wartezimmer durchschritt, das mit Besuchern gefüllt war, erkannte er in einer Ecke Marneffes blaues Gesicht. Marneffe ward als erster hereingerufen.
»Was für ein Anliegen haben Sie, Verehrter?« fragte der Baron, seine Unruhe verbergend.
»Herr Baron, man lacht mich in den Kanzleien aus, weil man soeben erfahren hat, daß der Herr Referent der persönlichen Abteilung heute morgen einen Erholungsurlaub angetreten hat und seine Reise ungefähr vier Wochen
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