Tante Lisbeth (German Edition)
Uhr ging der Baron geradenwegs zu Frau Marneffe. Das Herz schlug ihm wie einem Jüngling, als er die Treppe hinaufstieg; er dachte an nichts als an die Frage: Werde ich sie sehen oder nicht? Der Auftritt am Morgen, wo seine Familie in Tränen zu seinen Füßen gelegen hatte, war völlig vergessen. Bewies nicht Valeries Brief, den er in einem kleinen Brustbeutel lebenslang auf seinem Herzen zu tragen sich vorgenommen hatte, daß er mehr geliebt wurde als der liebenswürdigste junge Mann? Als der unglückliche Baron geläutet hatte, hörte er des gebrechlichen Marneffes Schlürfen mit den Hausschuhen und sein abscheuliches Gehuste. Marneffe öffnete, aber nur um sich hoch aufzurecken und Hulot die Treppe zu weisen mit genau derselben Gebärde, mit der Hulot ihm die Tür seines Geschäftszimmers gewiesen hatte.
»Sie sind gar zu sehr Hulot, Herr Hulot!« sagte er.
Der Baron wollte an ihm vorbeigehen, aber Marneffe zog eine Pistole aus der Tasche und spannte sie.
»Herr Staatsrat, wenn ein Mann ein Schuft ist wie ich – denn dafür halten Sie mich doch, nicht wahr? –, so wäre er ein kleinlicher Feigling, wenn er nicht jedweden Vorteil aus seiner verkauften Ehre herauspreßte! Sie wollen den Krieg! Gut, er soll heiß und schonungslos werden! Kommen Sie ja nicht wieder und versuchen Sie nicht, jetzt einzudringen. Ich habe den Polizeikommissar von meiner Lage Ihnen gegenüber benachrichtigt.«
Und Hulots Bestürzung benutzend, schob er ihn hinaus und schloß die Tür.
Ein vollendeter Verbrecher! meinte Hulot bei sich, als er zu Lisbeth hinaufstieg. Ja, jetzt verstehe ich den ersten Brief so recht. Wir müssen Paris verlassen, Valerie und ich! Valerie soll mir für den Rest meines Lebens gehören! Sie soll mir die Augen schließen!
Lisbeth war nicht zu Hause. Frau Olivier teilte dem Baron mit, daß sie zur Frau Baronin gegangen sei und den Herrn Baron dort anzutreffen geglaubt hätte.
Die arme alte Schachtel! Ich hätte sie nicht für so schlau gehalten, wie sie sich heute morgen gezeigt hat, dachte der Baron bei sich, indem er sich an Lisbeths Verhalten erinnerte.
An der Ecke der Rue Vanneau und der Rue de Babylone sah er zurück auf das Paradies, aus dem ihn Frau Ehe mit dem Schwert des Gesetzes in der Hand vertrieb. Valerie stand an ihrem Fenster und folgte Hulot mit den Blicken; als er zu ihr hinaufsah, schwenkte sie ihr Taschentuch; aber der gemeine Marneffe schlug sie in dem Augenblick auf den Kopf und zog sie roh vom Fenster fort. Dem Staatsrat trat eine Träne in das Auge.
Welche Marter, wenn man so geliebt wird und dabei die Geliebte mißhandelt sieht und selber bald siebzig alt ist!
Lisbeth war gekommen, um der Familie die glückliche Neuigkeit zu verkünden. Adeline und Hortense erfuhren also, daß der Baron, der sich in den Augen der ganzen Verwaltung nicht hatte entehren wollen, indem er Marneffe zum Kanzleidirektor beförderte, von dem wütend gewordenen Ehemanne vor die Tür gesetzt worden war. Da hatte denn die glückliche Adeline den Mittagstisch derart angeordnet, daß Hulot es besser als bei Valerie finden solle, und die aufopfernde Lisbeth half Mariette, diese schwierige Aufgabe zu erfüllen. Tante Lisbeth war nunmehr der wahre Abgott der Familie. Mutter und Tochter küßten ihr die Hände und erzählten ihr mit rührender Freude, der Marschall willige ein, sie zu seiner Hausdame zu machen.
»Wenn du einmal erst das bist, dann wirst du auch bald seine Frau werden!« sagte Adeline.
»Kurzum, er hat nicht nein gesagt, als Viktor mit ihm davon gesprochen hat«, fügte die Gräfin Steinbock hinzu.
Der Baron wurde von seiner Familie mit so zarten und rührenden Beweisen der Zuneigung und Liebe aufgenommen, daß er gezwungen war, seinen Kummer zu verbergen. Der Marschall kam zum Diner. Hulot ging hinterher nicht fort wie sonst. Auch Viktor und seine Frau erschienen. Es wurde Whist gespielt.
»Es ist lange her, Hektor«, sagte der Marschall ernst, »daß du uns solch einen Abend geschenkt hast!«
Die Worte des alten Soldaten, der seinen Bruder verzog und ihn so behutsam tadelte, machten tiefen Eindruck. Man erkannte daran, wie verletzt sein Herz sein mußte, in dem alles Leid der Seinen einen Widerhall gefunden hatte.
Um acht Uhr wollte der Baron Lisbeth nach Hause begleiten; er versprach wiederzukommen.
»Bedenke, Lisbeth, er hat sie mißhandelt!« sagte er auf der Straße zu ihr. »Ach, nie habe ich sie so geliebt!«
»Und ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß Valerie dich so
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