Tante Lisbeth (German Edition)
alter Vater dir sagt, daß du gegen die gute Sitte gehandelt hast, so glaube ihm das! Von meinem großen Schmerze will ich gar nicht reden. Er bedrückt mich schwer, denn du machst einer Frau Vorwürfe, deren Herz du nicht kennst und deren Haß furchtbar werden kann. Du bist unerfahren, ehrlich und unverdorben. Du ahnst ja gar nicht, wie sehr du verleumdet und in den Schmutz gezogen werden kannst. Übrigens, mein geliebter Engel, hast du einen dummen Spaß für Ernst angesehen, und ich stehe dir dafür, daß dein Mann unschuldig ist. Frau Marneffe ...«
Bis hierher hatte Hulot in geschickter Diplomatie das, was er sagen wollte, in die geschickteste Form gebracht, auch den eben genannten Namen unauffällig eingefügt. Aber als ihn Hortense hörte, war sie auf das tiefste verletzt. Hulot bemerkte es und fuhr fort, ehe sie Worte fand.
»Höre mich an! Ich habe Lebenserfahrung und ich habe alles beobachtet. Jene Dame behandelt deinen Mann durchaus kühl. Du bist das Opfer einer Mystifikation geworden. Ich werde dir das beweisen. Siehst du, gestern hat Stanislaus beim Diner.. «
»Was? Er war zu Tisch bei ihr?« unterbrach ihn die junge Frau erschrocken. »Gestern! Nachdem er meinen Brief bekommen hatte! O mein Gott! Warum bin ich nicht lieber in ein Kloster gegangen, anstatt zu heiraten! Und mein Leben gehört mir nicht mehr allein; ich habe ein Kind ...«
Hortenses Aufschrei' zerriß der Baronin das Herz. Sie kam aus ihrem Zimmer herbei, stürzte auf ihre Tochter zu und schloß sie in ihre Arme.
Also Tränen! meinte der Baron bei sich; zuerst ging alles so gut! Aber was kann man mit heulenden Frauen anfangen?
»Liebes Kind!« tröstete die Baronin, »hör auf den Vater! Er liebt uns...«
»Hortense«, ermahnte der Baron, »mein liebes Kindchen, weine nicht! Weinen macht häßlich. Sei vernünftig! Kehre brav in dein Heim zurück, und ich verspreche dir, daß Stanislaus jenes Haus nie wieder betritt. Ich bitte dich um das Opfer, wenn es überhaupt ein Opfer ist, dem Ehemanne, den man liebt, einen unbedeutenden Fehltritt zu verzeihen. Ich bitte dich bei meinem weißen Haar, bei deiner Liebe zu deiner Mutter! Du wirst mir doch auf meine alten Tage nicht Kummer und Leid zufügen wollen...«
Hortense warf sich wie eine Wahnsinnige ihrem Vater zu Füßen, mit einer so verzweifelten Heftigkeit, daß sich ihr lose gebundenes Haar löste.
»Vater«, rief sie aus, »du verlangst meinen Tod! Ich sterbe gern, wenn du es forderst, aber ich will wenigstens ohne Schande sterben. Aber verlange nicht von mir, daß ich geschändet dahingehe oder als Verbrecherin! Ich bin nicht wie meine Mutter. Ich vertrage keinen Schimpf! Wenn ich in meine Ehe zurückginge, wäre es möglich, daß ich Stanislaus in einem Anfalle von Eifersucht ermordete! Fordere nicht Dinge von mir, die über meine Kraft gehen! Ich fühle, daß ich dem Wahnsinn nahe bin ... Ach, gestern, gestern war er bei jenem Frauenzimmer zu Tisch! Gestern, nachdem er eben meinen Brief gelesen hatte! Sind denn alle Männer so? Sein Fehltritt leicht? Wo sie ein Kind von ihm bekommt ...«
»Ein Kind?« wiederholte Hulot, indem er zurückprallte. »Das ist ganz sicher ein schlechter Scherz!«
In dem Augenblick traten Viktor und Tante Lisbeth ins Zimmer. Sie blieben betroffen stehen, als sie die Tochter zu Füßen des Vaters knien und die Baronin verweint und verstört danebenstehen sahen.
»Lisbeth«, rief der Baron und faßte die alte Jungfer bei der Hand, »du mußt mir hier zu Hilfe kommen! Hortense ist ganz verdreht. Sie bildet sich ein, ihr Stanislaus habe ein Liebesverhältnis mit Frau Marneffe, wo sie von ihm doch weiter nichts will als die Gruppe ...«
»Delila!« schrie Hortense auf. »Das einzige Werk, das er seit unserem Hochzeitstage geschaffen hat! Für mich, für seinen Sohn vermochte er nichts zu vollenden. Für diese Dirne aber ergreift ihn die Begeisterung! Vater, mach ein Ende! Jedes Wort ist ein Dolchstoß für mich.«
Mit einer Wendung an die Baronin und an Viktor machte Lisbeth eine bedauernde Geste, die dem Baron galt, die er aber nicht bemerken konnte.
»Vetter«, sagte sie dann zum Baron, »als du mich batest, in Frau Marneffes Haus zu wohnen und ihr die Wirtschaft zu führen, da wußte ich nicht, was für eine Frau sie ist. Aber in drei Jahren sieht man so mancherlei. Sie ist eine Dirne! Und zwar eine Dirne von einer Verworfenheit, die höchstens von ihrem häßlichen und ehrlosen Manne übertroffen wird. Du bist der Dumme, der Ausgebeutelte, der
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