Tante Lisbeth (German Edition)
stehe ich mit fünfundvierzig Dienstjahren ohne Vermögen da. Sie kennen die Gepflogenheiten der vierhundert Volksvertreter Frankreichs! Diese Herren bewilligen einem alten Staatsdiener nichts! Man hat vergessen, daß wir die Große Armee...«
Der Fürst unterbrach ihn:
»Sie haben den Staat bestohlen! Sie haben sich in die Lage gebracht, vor einem Gericht erscheinen zu müssen wie ein durchgebrannter Kassierer! Und das nehmen Sie so leicht?«
»Durchlaucht, es ist doch wohl ein Unterschied vorhanden. Ich habe mit meinen Händen in keine mir anvertraute Kasse gegriffen...«
»Wenn man solche Schuftereien begeht, dann ist man in Ihrer Stellung doppelt schuldig, wenn man die Sache ungeschickt macht. Sie haben unsere höhere Verwaltung, die bisher in Europa unbescholten dastand, auf die gemeinste Weise bloßgestellt. Und das, mein Herr, wegen zweihunderttausend Francs und um eines Frauenzimmers willen! Sie sind Staatsrat! Den gemeinen Soldaten trifft die Todesstrafe, wenn er Regimentseigentum verkauft. Oberst Pourin vom zweiten Ulanenregiment hat mir einmal folgende Geschichte erzählt. In Zabern hatte einer seiner Unteroffiziere eine Liebschaft mit einer kleinen Elsässerin. Sie wünschte sich ein Kopftuch. Der arme Kerl, eine Perle seines Regiments, zwanzig Jahre Soldat und kurz vor der Beförderung zum Wachtmeister, vergriff sich in seiner Verliebtheit am Schwadronseigentum, um dem Mädel das Kopftuch schenken zu können ... Wissen Sie, Herr Baron von Ervy, was der Ulan getan hat, als man ihn erwischt hatte? Er verschluckte Fensterglasscherben und starb, nachdem er elf Stunden im Lazarett gelitten! Und Sie! Geben Sie sich Mühe, an einem Schlaganfall zu sterben! Retten Sie damit Ihre Ehre!«
Der Baron blickte den alten Soldaten verstört an. Der Marschall erkannte an diesem Blicke den Feigling. Er wurde blutrot, und seine Augen funkelten.
»Durchlaucht lassen mich fallen?« stotterte Hulot.
Gerade in dem Augenblick erlaubte sich Marschall Hulot einzutreten. Er hatte gehört, daß der Minister allein mit seinem Bruder sei. Er schritt auf den Fürsten zu.
»Ah! Ich weiß, was du willst, alter Kriegsgefährte!« rief ihm der Held von 1812 zu. »Es ist umsonst!«
»Umsonst?« wiederholte der Graf, der nur das eine Wort verstanden hatte.
»Gewiß! Du willst doch für deinen Bruder bitten; aber weißt du, für wen du da bittest?«
»Mein Bruder?« fragte der Schwerhörige.
»Der Schweinehund ist deiner unwürdig!« brüllte der Fürst. Seine Augen blitzten wild. Energie und Genie leuchteten in ihnen, wie einst in den Augen des Kaisers.
»Du lügst, Collin!« entgegnete der Graf leichenblaß. »Wirf deinen Marschallstab weg, und ich will den meinen auch wegwerfen! Befiehl! Ich gehorche!«
Der Fürst ging ganz dicht an seinen alten Kriegskameraden heran, sah ihm fest in die Augen, und seine Rechte erfassend rief er ihm ins Ohr:
»Bist du ein Mann?«
»Du sollst es erleben!«
»Gut! Sei stark! Du hast das größte Unglück zu tragen, das dich treffen konnte!«
Der Fürst wandte sich um, nahm ein Aktenheft vom Schreibtisch und händigte es dem Grafen ein:
»Lies das!«
Der Graf von Pforzheim las das erste Blatt des Aktenstücks, folgendes Schreiben:
»An den Königlichen Marschall von Frankreich, Staats- und Kriegsminister, Fürsten von Weißenburg, Durchlaucht.
Geheim! Algier, den ...
Lieber Fürst!
Wie Sie aus den beiliegenden Untersuchungsakten ersehen werden, haben wir eine böse Sache auf dem Halse. Kurzgefaßt: der Baron Hulot von Ervy hat einen Verwandten von sich in die Provinz Oran geschickt, um unsaubere Proviant- und Furagespekulationen zu unternehmen. Ein Proviantamtsvorstand ist Helfershelfer. Letzterer hat die Sache gemeldet, um von sich reden zu machen, und ist dann geflüchtet. Da es nur Unterbeamte betraf, hat der Staatsanwalt die Angelegenheit auf das strengste untersucht. Aber als Ihres Hulot Onkel, Hans Fischer mit Namen, vernommen werden sollte, hat er sich im Untersuchungsgefängnis mit einem Nagel getötet.
Damit wäre die ganze Sache erledigt gewesen, wenn dieser Biedermann, den Neffe wie Helfershelfer offenbar in gleicher Weise übers Ohr gehauen haben, nicht den Einfall gehabt hätte, dem Baron Hulot einen Brief zu schreiben. Dieser Brief ist der Staatsanwaltschaft in die Hände gefallen und mir vorgelegt worden. Ich habe mir die Akten geben lassen, denn die Verhaftung eines Staatsrates und Abteilungschefs im Kriegsministerium und eine kriegsgerichtliche Untersuchung gegen ihn
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