Tante Lisbeth (German Edition)
warum bist du denn heute eigentlich zu mir gekommen?« fragte der Fürst bewegt.
Der Graf deutete auf Hektor.
»Wegen seiner Frau! Sie hungert, besonders jetzt!«
»Er bekommt doch seine Pension!«
»Die ist verpfändet!«
»Der Teufel muß ihn geritten haben!« schimpfte der Fürst und zuckte mit den Achseln. »Sind Sie denn von Ihren Weibern verhext und um Ihren Verstand gebracht? Sie kennen die peinliche Genauigkeit, mit der die französische Verwaltung alles bucht und protokolliert. Man verschwendet Ballen von Schreibpapier, um den Ein- und Aufgang von ein paar Groschen nachzuweisen. Sie haben sich selber einmal bei mir beklagt, daß hundert Unterschriften nötig seien, um einen Soldaten zu entlassen oder um eine Lieferung Striegel zu bezahlen. Und da haben Sie sich eingebildet, diese Geschichte werde nicht alsbald aufgedeckt? Dazu die Presse, die Neider, die Leute, die selber stehlen! Ihre Weiber müssen Sie um den gesunden Menschenverstand gebracht haben! Anders kann ich mir die Sache nicht erklären. In dem Moment aber, wo Sie kein Mann mehr waren, sondern ein Stimmungsmensch, in diesem Moment mußten Sie Ihren Abschied nehmen. Wenn man bei seinen Verbrechen noch derartig geistig beschränkt ist, dann endet man ... ich will Ihnen lieber nicht sagen, wo!«
Der Graf von Pforzheim unterbrach ihn:
»Collin, versprich mir, daß du dich um sie kümmern wirst!«
Er hatte des Fürsten Worte nicht gehört, sondern immer an seine Schwägerin gedacht.
»Sei unbesorgt!« entgegnete ihm der Minister.
»Ich danke dir! Lebe wohl!«
Und zu seinem Bruder gewandt, fügte er hinzu:
»Kommen Sie mit!«
Der Fürst sah anscheinend ruhigen Sinnes auf die beiden in Gestalt, Wesen und Charakter so verschiedenen Brüder. Ein Held und ein Feigling! Ein Genußmensch und ein Puritaner! Ein Ehrenmann und ein Veruntreuer! dachte er bei sich. Dieser Feigling versteht nicht zu sterben, und mein armer, so urehrlicher Hulot ist ein Todeskandidat. Traurig!
Er setzte sich in seinen Schreibstuhl und las die aus Afrika eingegangenen Depeschen mit der Kaltblütigkeit des Feldherrn und der tiefen Trauer, die den Menschen angesichts eines Schlachtfeldes befällt.
Für den schärferen Beobachter gibt es nichts Menschlicheres als einen Soldaten, der sich äußerlich rauh stellt und dem die Gewohnheit, die Massen in den Tod zu führen, eine eherne Ruhe verleiht.
Am Tage darauf enthielten die Zeitungen folgende Notizen:
»Der Staatsrat Baron Hulot von Ervy ist um seine Versetzung in den Ruhestand eingekommen. Die bei der Verwaltung in Algier zutage gekommenen Unregelmäßigkeiten, die den Selbstmord und die Flucht zweier Beamten zur Folge gehabt haben, sind nicht ohne Einfluß auf den Entschluß des hohen Beamten gewesen. Als er Kenntnis von den Unterschleifen erhielt, die Beamte begangen hatten, in die er sein Vertrauen gesetzt, suchte ihn im Geschäftszimmer des Kriegsministers ein Schlaganfall heim.
Hulot von Ervy – der Bruder des Marschalls – blickt auf eine Dienstzeit von fünfundvierzig Jahren zurück. Sein Entschluß, gegen den man vergeblich angekämpft hat, wird von allen bedauert, die Herrn von Hulot kennen. Er ist gleichbedeutend als Mensch wie als Verwaltungsbeamter. Es bleibt unvergessen, welch treue Dienste er als Generalintendant der Kaiserlichen Garde in Warschau geleistet hat, und wie bewundernswert seine Tätigkeit bei der Organisation der 1815 von Napoleon improvisierten Armee gewesen ist. Mit ihm geht abermals ein Stern der Kaiserzeit unter. Seit 1830 war er ununterbrochen eine der trefflichsten Stützen des Staatsrates und des Kriegsministeriums.«
»Algier. Die bekannte Furageaffäre, die in einigen Zeitungen lächerlich aufgebauscht worden ist, hat mit dem Tode des Hauptschuldigen ihre Erledigung gefunden. Dieser, ein gewisser Hans Wisch, hat sich im Gefängnis entleibt. Sein Mitschuldiger ist geflüchtet, aber man wird ihn in contumaciam verurteilen.
Wisch, ein ehemaliger Proviantbeamter der Armee, ein ehrlicher, allgemein geachteter Mensch, hat es nicht überwinden können, ein Opfer des geflüchteten Proviantamtsvorstandes Chardin geworden zu sein.«
»Das Kriegsministerium hat sich, um in Zukunft Unregelmäßigkeiten vorzubeugen, entschlossen, ein Intendantur-Amt in Afrika einzurichten. Wie man hört, soll der Kanzleidirektor im Kriegsministerium Marneffe mit der Einrichtung dieses Amtes betraut worden sein.«
»Als Amtsnachfolger des Barons Hulot wird der Graf Martial de la Roche-Hugon genannt. Er ist
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