Tante Lisbeth (German Edition)
Pariser Aufenthalts vom General Montcornet verwöhnt worden war. Zwanzig Jahre lang hatte ihr alle Welt zu Füßen gelegen. Verschwenderisch, wie sie war, hatte sie alles durchgebracht und alles vergeudet, bis der Sturz Napoleons dem Luxusleben aller jener Existenzen ein Ende setzte. Die Granden des Kaiserreichs waren in ihren tollen Streichen um kein Haar anders als die Grandseigneurs des Ancien régime. Erst der Adel der Restaurationszeit, der sich immerfort daran erinnerte, daß er bestohlen und geschlagen worden war, wurde mit ganz geringen Ausnahmen sparsam, vernünftig und vorsichtig, kurzum, spießbürgerlich und kleinlich. Dann wurde 1830 das Werk von 1793 vollendet. Von da an gibt es in Frankreich bis auf weiteres wohl noch große Namen, aber keine großen Häuser mehr.
Die Not, deren Druck auf Valerie an dem Tage, wo sie den Baron Hulot »gekapert« hatte (wie sich Marneffe ausdrückte!), besonders schwer war, hatte sie dazu gebracht, aus ihrer Schönheit Geld zu schlagen. Seit einiger Zeit sehnte sie sich – ganz wie ehedem ihre Mutter – auch nach einer zuverlässigen Freundin, der sie anvertrauen konnte, was sie dem Hausmädchen verschweigen mußte, nach einer Freundin, die für sie denken, laufen und handeln sollte, kurz und gut, nach einer untertänigen Seele, die mit der ungleichen Verteilung der Güter dieses Lebens einverstanden war. Genau wie Lisbeth hatte sie die geheime Absicht des Barons durchschaut, als er die beiden weiblichen Wesen einander zuführte. Geleitet von der berüchtigten Klugheit der Pariserin, die stundenlang auf dem Diwan ausgestreckt vor sich hingrübelt und mit der Laterne ihrer Beobachtungsgabe die dunkelsten Winkel der Seelen mit all ihren Gefühlen und Verworrenheiten durchstöbert, war sie auf den Einfall gekommen, eine Genossin der Spionin zu werden. Die fürchterliche Indiskretion, die sie beging, war wohlüberlegt und wohlvorbereitet. Valerie hatte die innerste Natur der alten Jungfer klar erkannt, ihre verschüttete Leidenschaftlichkeit, die sich nie ausgelebt hatte. Daran knüpfte sie an.
In dieser Stunde hatte Tante Lisbeth ihr altes wahres Ich wiedergewonnen. Eine atavistische Wildheit, lange unterdrückt, brach in ihr mit einem Male hervor. Jeder Beobachter der menschlichen Gesellschaft ist voll von Bewunderung, wenn er die Fülle, die Schönheit und die Wucht der Konzeption jungfräulicher Naturen sieht. Wie alle Ungeheuerlichkeiten hat die Jungfräulichkeit ganz besondere Schätze und erstaunliche Herrlichkeiten. Das Leben, dessen Kräfte aufgespeichert werden, verleiht keuschen Menschen eine Widerstandsfähigkeit und Zähigkeit ohnegleichen. Das Gehirn wird um die Summe der unverbrauchten Zeugungskräfte bereichert. Wenn keusche Menschen ihren Körper oder ihre Seele brauchen, wenn sie an Gedanken oder Taten gehen, dann finden sie Stahl in ihren Muskeln, und sie entdecken den Stein der Weisen in ihrem Hirn, eine dämonische Kraft.
Unter diesem Gesichtspunkte übertrifft die Jungfrau Maria, rein als eine symbolische Erscheinung betrachtet, alle indischen, ägyptischen und griechischen Vorbilder. Die Jungfräulichkeit, die Magna parens rerum, hält in ihren schönen weißen Händen den Schlüssel der höheren Welten. Diese schrecklich-großartige Wundergestalt verdient in der Tat alle die Ehren, die ihr der katholische Kult erweist.
In dieser Stunde wurde Lisbeth zum Wilden, dessen Schlinge keiner entgeht, dessen Heuchelei undurchdringlich ist und dessen rascher Entschluß auf einer unerhörten Verfeinerung der Sinne beruht. Haß und Rachsucht ohne Übergänge trieben ihr Wesen in Lisbeth wie in einem Geschöpfe des Südens oder des Morgenlandes. Diese beiden Gefühle, die in der Liebe wie in der Freundschaft das Äußerste vollbringen, gedeihen sonst nur unter heißer Sonne. Aber sie war eine Lothringerin, das heißt, voll des Willens zu täuschen.
Von Frau Marneffe eilte Tante Lisbeth zu Rivet, den sie in seinem Arbeitszimmer antraf.
»Ja, ja, bester Herr Rivet«, sagte sie zu ihm, nachdem sie die Tür hinter sich verriegelt hatte, »Sie hatten recht. Die Polen, das sind Gauner. Alle miteinander Leute ohne Treu und Glauben... .«
»Leute, die am liebsten ganz Europa in Brand setzen und zugrunde richten möchten«, ergänzte der behäbige Rivet, »und für was? Für ein Ländchen, wo es weiter nichts als Moräste, Juden und Wanzen geben soll – die Bauern nicht gerechnet, diese Bestien, die aus Versehen Menschen geworden sind. Die Polen verkennen das
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