Tante Lisbeth (German Edition)
neunzehnte Jahrhundert. Wir sind keine Barbaren mehr! Der Krieg ist abgeschafft! Jawohl, Verehrteste, abgeschafft mitsamt den Fürstenthronen! Unsere Zeit gehört dem Handel, der Industrie, dem klugen Bürgertum, das seine Heimat in Holland hat!« Seine Stimme belebte sich. »Gewiß, wir leben in einem Zeitalter, wo die Völker alles erhoffen dürfen durch die gesetzmäßige Weiterentwicklung ihrer freien Rechte und durch den friedsamen Wetteifer der konstitutionellen Einrichtungen. Das verkennen die Polen... . Was wollten Sie sagen, Verehrteste?« unterbrach er sich, als er aus dem Gesichte seiner Arbeiterin herauslas, daß die hohe Politik außerhalb ihres Verständnisses lag.
»Hier ist der Haftbefehl!« sagte Lisbeth. »Da ich meine dreitausendzweihundertzehn Francs nicht einbüßen will, soll der Schurke ins Gefängnis!«
»Sehen Sie! Hab ich es nicht immer gesagt?« rief das Orakel des Viertels von Saint-Denis.
Die Firma Rivet, Gebrüder Pons Nachfolger, hatte von jeher ihren Sitz in der Rue des Mauvaises-Paroles, im ehemaligen Hotel Langeais, das von der berühmten Firma erbaut ward, als die Grandseigneurs um das Louvre herum wohnten.
»Wenn alles klappt, morgen früh um vier Uhr sitzt er hinter Schloß und Riegel!« fuhr Rivet fort. »Das heißt: übermorgen, denn man darf ihn nicht einsperren, ohne ihn vorher davon benachrichtigt zu haben, daß ein Haftbefehl der Schuld wegen gegen ihn erlassen worden ist... .«
»So ein dummes Gesetz!« schimpfte Lisbeth. »Da brennt ein Schuldner doch vorher durch!«
»Was man ihm auch gar nicht verdenken kann!« scherzte der Handelsrichter. »Also hier... .«
»Gut! Ich werde die Zustellung mitnehmen«, unterbrach ihn Lisbeth. »Ich werde sie ihm einhändigen und ihm sagen, ich hätte Geld leihen müssen, und der Geldgeber verlange diese Formalität. Wie ich meinen Polen kenne, wird er den Wisch zusammengefaltet lassen und sich seine Tabakspfeife damit anzünden.«
»Trefflich, trefflich, Fräulein Fischer! Also ruhig Blut! Die Sache wird gemacht! Halt! Noch etwas! Einen Menschen einsperren, das ist nicht die Hauptsache. Man leistet sich diesen juristischen Luxus nur, wenn man damit wirklich zu seinem Gelde kommt. Wer wird die Zahlung leisten?«
»Die ihm Geld zu verdienen geben.«
»Ach ja, ich vergaß, daß der Kriegsminister ihm den Auftrag erteilt hat, einem unserer ehemaligen Kunden ein Denkmal zu verfertigen. Ja, ja, unsere Firma hat dem General Montcornet manche Uniform geliefert. Er ließ sie sich prompt im Pulverdampfe der Kanonen verräuchern. Er war ein Held und blieb nichts schuldig!«
Ein Marschall von Frankreich mag Kaiser und Reich gerettet haben. Daß er »nichts schuldig blieb«, wird immer das höchste Lob aus dem Munde eines Krämers bleiben.
»Abgemacht, Herr Rivet! Am Sonnabend sollen Sie Ihre Goldquasten haben. Übrigens: ich ziehe um. Von der Rue du Doyenné nach der Rue Vanneau.«
»Das machen Sie recht! Es war immer mein Kummer, daß Sie in dem Schandwinkel wohnten. Ich bin ein Gegner aller Neuerungen. Aber das sage ich frei heraus, die Spelunken da schänden das Louvre und die Place du Carrousel. Ich bin ein Verehrer von Ludwig-Philipp. Er ist mein Abgott! Er ist der erlauchte leibhaftige Vertreter des Standes, auf den sich seine Dynastie stützt, und ich werde es nie vergessen, was er für unsere Branche getan hat, als er die Bürgerwehr wieder ins Leben rief... .«
»Wenn man Sie so reden hört«, unterbrach ihn Lisbeth, »wundert man sich nur, daß Sie nicht Abgeordneter sind!«
»Man hat vor meiner Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus Angst«, entgegnete Rivet. »Majestät und ich, wir haben die gleichen politischen Feinde. Ach, er ist ein edler Charakter aus herrlichem Geblüt! Er ist unser Ideal. In seinem Lebenswandel, seiner Sparsamkeit, in allem! Der Ausbau des Louvre war eine unserer Bedingungen bei der Königswahl; leider ist keine Frist gestellt worden, und so besteht der Schandfleck im Herzen der Stadt noch immer. Die Gegend, in der Sie wohnen, ist schauderhaft! Man hätte Sie da jeden Tag abmurksen können... . Wissen Sie schon, daß Ihr Herr Vetter Crevel zum Bataillonskommandeur befördert worden ist? Hoffentlich bestellt er sich die Stabsoffiziersepauletten bei uns.«
»Ich bin heute bei ihm zu Tisch. Ich werde ihn herschicken.«
In der Absicht, Crevel aufzusuchen, der in der Rue des Saussayes wohnte, ging sie über den Pont du Carrousel, den Quai Voltaire, den Quai d'Orsay, die Rue de Bellechasse,
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