Tante Lisbeth (German Edition)
Kopfnicken. Zuweilen ist ein Blick der Augen oder eine Bewegung des Kopfes ein feierlicherer Schwur als der vor einem Gerichtshofe.
Daraufhin fuhr Frau Marneffe fort, indem sie ihre Hand in die Lisbeths legte, gleichsam als ließe sie sich dadurch Treue geloben:
»Ich besitze alle äußern Zeichen der Ehrbarkeit. Ich bin eine verheiratete Frau und doch meine eigene Herrin. Wenn es Marneffe einmal einfallen sollte, sich morgens bei mir zu verabschieden, ehe er in das Ministerium geht, so wird er mein Schlafzimmer verschlossen finden. Sein Kind liebt er nicht besonders. Wenn ich einmal nicht zu Tisch komme, ißt er kreuzvergnügt zusammen mit dem Kindermädchen, dem ihm treu ergebenen. Alle Abende geht er nach Tisch aus und kehrt oft vor zwölf oder ein Uhr nicht zurück. Zu meinem Leidwesen habe ich seit einem Jahre keine Kammerjungfer. Solange bin ich nämlich Witwe. Meine einzige Leidenschaft, mein Glück war ein reicher Brasilianer; aber seit einem Jahre ist er fort. Leider! Er will seine Besitzungen drüben verkaufen, alles zu Geld machen und sich dann in Frankreich niederlassen. Was wird er von seiner Valerie wiederfinden? Ein Aschenhäufchen. Unsinn! Was kann ich dafür? Warum bleibt er so lange? Vielleicht ist sein Schiff gescheitert – wie meine Tugend... .«
»Laß fahren dahin!« unterbach sie Lisbeth. »Aber wir wollen nie voneinander lassen! Ich liebe dich, ich verehre dich, ich bin die Deine! Mein Vetter quält mich, ich solle in euer künftiges Haus ziehen, in der Rue Vanneau. Aber ich wollte bisher nicht, denn ich erriet den geheimen Grund der neuen Wohltat... .«
»Aha! Du solltest mich natürlich überwachen.«
»Das wird wohl der Grund seines Edelmuts sein«, erwiderte Lisbeth. »In Paris haben die meisten Wohltaten ihren gutberechneten Hintergrund. Mit einer armen Verwandten verfährt man wie mit den Ratten, denen man ein Stück Speck hinhält. Aber nun werde ich das Angebot des Barons annehmen, denn dieses Haus hier ist mir verekelt. Wir beide aber sind klug genug: wir werden zu schweigen wissen, wo uns Gefahr droht, und sprechen, wo gesprochen werden muß. Also keine Verräterei, aber feste Freundschaft!«
»Unter allen Umständen!« setzte Frau Marneffe fröhlich hinzu, glücklich, nunmehr eine Respekts- und Vertrauensperson zu haben: eine Art Ehrentante. »Übrigens, der Baron läßt sich in der Rue Vanneau nicht lumpen!«
»Glaube es gern«, gab Lisbeth zur Antwort. »Es kostet auch an die dreißigtausend Francs. Woher er sie nimmt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ihn Josepha, die Sängerin, bereits völlig ruiniert hatte. Na, wenn du nur gut dabei wegkommst! Sobald der Baron sein Herz in so zarten Händen wie in den deinen weiß, verschafft er sich schon Geld, und wenn er es stehlen sollte!«
»Famos!« lachte Frau Marneffe mit der Sorglosigkeit, vielmehr dem Leichtsinn einer Dirne. »Kleinchen, höre mal, nimm dir aus meiner Einrichtung hier alles heraus, was du für deine neue Wohnung gebrauchen kannst ... die Kommode da, den Spiegelschrank, den Teppich, die Vorhänge... .«
Lisbeth riß die Augen vor unbändiger Freude auf. Solch ein Geschenk kam ihr ganz unglaublich vor.
»Du tust für mich in einem Augenblick mehr als meine reiche Verwandtschaft seit dreißig Jahren!« rief sie aus. »Die haben nie darnach gefragt, ob ich Möbel habe. Bei seinem ersten Besuche, den mir der Baron gemacht hat, vor etlichen Wochen, hat er beim Anblick meiner Armut das übliche Gesicht der reichen Leute geschnitten... . Genug, Kleinchen, ich danke dir und werde es dir vergelten! Auf welche Weise ... das werden wir später sehen.«
Valerie begleitete »ihr Tantchen« bis an den Treppenabsatz, wo sie sich küßten.
Wie sonderbar sie riecht! sagte sich die hübsche Frau, als sie wieder allein war. Ich werde sie nicht oft küssen, die liebe Tante! Gleichwohl aufgepaßt! Ich muß behutsam mit ihr umgehen. Sie kann mir sehr nützlich sein, ja ein Vermögen einbringen!
Als echte Pariserin verabscheute Frau Marneffe die Anstrengung. Sie war saumselig wie eine Katze, die nur in der Not läuft und klettert. Für sie mußte das Leben eine Kette von Vergnügungen sein, und nicht einmal das Vergnügen durfte Mühe erfordern. Sie liebte Blumen, aber sie mußten ihr ins Haus getragen werden. Ins Theater zu gehen, fiel ihr gar nicht ein; sie hätte denn eine Loge für sich und einen Wagen zum Hin- und Herfahren haben müssen. Diese Haremsnatur hatte Valerie von ihrer Mutter geerbt, die wärend ihres
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