Tante Lisbeth (German Edition)
habe ich den schrecklichen Argwohn, sie könne insgeheim um Geld arbeiten.«
Man durchschritt den großen dunklen unerleuchteten Salon. Mariette folgte mit der Lampe aus dem Eßzimmer hinüber in das Schlafzimmer der Baronin. In diesem Moment zupfte Viktor Lisbeth und Hortense am Arm. Die beiden begriffen das Zeichen. Indem sie Stanislaus, Cölestine, den Marschall und die Baronin weitergehen ließen, blieben sie in einer Fensternische zusammen stehen.
»Was ist los, Viktor?« fragte Lisbeth. »Ich wette, dein Vater hat irgendein Unheil angestiftet.«
»So ist es!« gab Viktor zur Antwort. »Ein Wucherer namens Vauvinet hat für sechzigtausend Francs Wechsel vom Vater und will sie einklagen. Ich habe mit Vater im Abgeordnetenhaus über die bedauerliche Angelegenheit sprechen wollen, aber er ließ sich auf nichts ein. Er ist mir geradezu aus dem Wege gegangen. Soll ich Mutter davon in Kenntnis setzen?«
»Auf keinen Fall!« erklärte Lisbeth. »Sie hat schon genug Sorgen. Das wäre ihr Tod. Man muß sie schonen. Ihr ahnt nicht, wie es um sie steht. Ohne euren Onkel hätten wir heute an einem leeren Tisch gesessen.«
»Mein Gott, Viktor, wir sind gefühllose Geschöpfe!« rief Hortense aus. »Was uns Lisbeth mitteilt, hätten wir von selber merken müssen! Das Mittagessen sitzt mir in der Kehle.«
Hortense vermochte nicht weiterzusprechen. Sie hielt sich das Taschentuch vor den Mund, um nicht in lautes Schluchzen auszubrechen. Sie weinte vor sich hin.
Viktor fuhr fort: »Ich habe diesem Vauvinet gesagt, er solle mich morgen aufsuchen. Wird er sich aber mit der hypothekarischen Sicherheit, die ich ihm bieten kann, begnügen? Ich bezweifle es. Solche Kerle wollen bar Geld sehen, um weiter wuchern zu können.«
»Verkaufen wir unsere Rente!« schlug Lisbeth Hortense vor.
»Was nützt das?« wehrte Viktor ab. »Fünfzehn- oder sechzehntausend Francs ergeben sie, wo sechzigtausend nötig sind!«
Hortense fiel Lisbeth mit der Begeisterung des reinen Herzens um den Hals: »Liebste Tante!«
»Nein, Lisbeth«, erklärte Viktor, indem er die Hand der Lothringerin drückte, »behalte du dein bißchen Vermögen. Ich will morgen hören, was der Mann vorhat. Wenn meine Frau einverstanden ist, werde ich das gerichtliche Verfahren verhindern oder Aufschub erlangen. Es handelt sich um das Ansehen meines Vaters! Das wäre ja schrecklich! Was würde der Kriegsminister dazu sagen! Vaters Gehalt ist auf drei Jahre verpfändet und wird erst im Dezember wieder frei. Somit kann es auch nicht als Sicherheit angeboten werden. Dieser Vauvinet hat die Wechsel bereits elfmal prolongiert. Ihr könnt daraus berechnen, was für Summen der Vater an Wucherzinsen bezahlt haben muß. Die unselige Sache muß aus der Welt geschafft werden!«
»Wenn Frau Marneffe ihn nur lassen wollte!« bemerkte Hortense in bitterem Tone.
»Gott bewahre uns davor!« rief Viktor aus. »Der Vater würde nur neue Dummheiten machen. Hier sind die größten Kosten bereits überstanden.«
Wie anders hatten die beiden Kinder dereinst von ihrem Vater gedacht.
»Ohne mich hätte sich euer Vater noch mehr ruiniert als so«, bemerkte Lisbeth.
»Gehen wir hinüber!« forderte Hortense auf. »Mutter ist klug. Sie wird irgend etwas argwöhnen. Dem Rate unsrer guten Lisbeth folgend, wollen wir ihr nichts sagen. Wir wollen uns stellen, als seien wir guter Dinge!«
»Viktor«, flüsterte Lisbeth, »du weißt nicht, was euch eures Vaters Schwäche für die Frauen noch bringen wird. Sichert euch eine Geldquelle, indem ihr mich mit dem Marschall verheiratet. Ihr solltet ihn alle heute abend dazu bereden. Ich werde mich zeitig empfehlen.«
Viktor ging in das Zimmer.
»So ist es nun, armes Kindchen«, sagte Lisbeth ganz leise zu Hortense, »und was wirst du machen?«
»Komm morgen zu uns zu Tisch«, gab sie zur Antwort. »Wir werden uns aussprechen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Du, du kennst die Leiden des Lebens. Du wirst mich beraten.«
Während die versammelte Familie Hulot den Marschall zum Heiraten zu bewegen suchte und Lisbeth nach der Rue Vanneau heimging, ereignete sich daselbst einer jener Zufälle, die Frauennaturen wie Valerie Matneffe zu Meisterinnen des Lasters machen und sie zwingen, alle Kriegsmittel der Verdorbenheit ins Feld zu führen. In Paris ist das Leben viel zu kompliziert, als daß die Menschen Böses aus Hang zum Bösen begehen. Sie verteidigen sich gegen den Ansturm des Lebens mit Hilfe des Bösen. Mehr tun sie nicht.
In Frau Marneffes
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