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Tante Lisbeth (German Edition)

Tante Lisbeth (German Edition)

Titel: Tante Lisbeth (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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versuchte. Beim Zurückkommen las sie das Bleistiftgekritzel verstohlen:
    »Lieber Schwager. Mein Mann hat mir mein Ausgabegeld für ein Vierteljahr gegeben, aber Hortense brauchte sehr nötig Geld, und da habe ich ihr die ganze Summe geliehen. Sie genügte ihr kaum, um aus ihrer Verlegenheit zu kommen. Kannst Du mir ein paar hundert Francs vorstrecken? Ich möchte nämlich Hektor nicht nochmals um Geld bitten. Ein Vorwurf von ihm wäre mir allzu schmerzlich.
    Adeline.«
    Aha! dachte Lisbeth bei sich. In was für großer Not mag sie stecken, wenn sie sich so demütigt!
    Als sie eintrat, überraschte sie Adeline in Tränen. Sie flog ihr an den Hals.
    »Adeline, Liebste, Beste, ich weiß alles!« rief sie aus. »Sieh, der Marschall hat diesen Zettel verloren, so aufgeregt war er. Er rannte wie ein Windhund davon. Dieser schändliche Hektor hat dir kein Geld gegeben seit ...«
    »Er gibt es mir sehr pünktlich«, unterbrach die Baronin ihre Kusine, »aber wie gesagt, Hortense brauchte es ...«
    »Und du hast nicht einmal so viel, um das Mittagessen für uns zu bestreiten? Jetzt verstehe ich Mariettes verlegenes Gesicht, als ich sie nach der Suppe fragte. Darf ich dir meine Ersparnisse geben, Adeline?«
    »Ich danke dir, meine gute Lisbeth«, gab die Baronin zur Antwort, indem sie sich die Augen trocknete. »Die kleine Verlegenheit ist nur momentan. Für die Zukunft ist gesorgt. Meine Ausgaben werden fortan nur zweitausendvierhundert Francs im Jahre betragen, einschließlich der Miete. Und das werde ich haben. Vor allem, Lisbeth, darf Hektor kein Wort davon erfahren. Geht es ihm gut?«
    »Wie dem Fisch im Wasser! Der Schwerenöter! Er ist ganz im Banne seiner Valerie.«
    Frau von Hulot verlor sich in der Betrachtung einer hohen Silbertanne, die sich im Sehbereich ihres Fensters erhob. So konnte Lisbeth nicht sehen, was in den Augen ihrer Kusine geschrieben stand.
    »Hast du ihn daran erinnert, daß heute der Tag ist, an dem wir hier bei Tisch zusammenkommen?«
    »Gewiß. Aber Frau Marneffe gibt ein großes Diner. Sie hofft, die Pensionierung Coquets durchzusetzen, und das geht allem andern vor! Hör mich mal an, Adeline! Du kennst doch meinen Dickkopf in puncto Unabhängigkeit. Dein Mann wird dich todsicher ruinieren. Ich habe geglaubt, euch allen gute Dienste bei dieser Marneffe zu leisten. Aber sie ist eine grenzenlos verdorbene Kreatur. Sie wird deinen Mann noch zu Dingen verleiten, die euch alle in Schande stürzen ...«
    Adeline zuckte zusammen wie jemand, der einen Dolchstoß ins Herz empfängt.
    »Ja, liebe Adeline, des bin ich sicher! Ich muß versuchen, dich aufzuklären. Denken wir also einmal an die Zukunft! Der Marschall ist alt, aber er tut noch sein bißchen Dienst und bezieht ein schönes Gehalt. Wenn er einmal stirbt, bekommt seine Witwe sechstausend Francs Pension. Wenn ich sie bekäme, könnte ich euch alle miteinander erhalten. Mache deinen Einfluß auf den guten Mann geltend, daß wir uns heiraten. Nicht, damit ich Frau Marschall werde. Darauf pfeife ich. Nur damit ihr euer täglich Brot habt. Ich sehe, Hortense hat es nicht, da du ihr das deine gibst.«
    Der Marschall kam zurück. Der alte Soldat war dermaßen gelaufen, daß er sich die Stirn mit dem seidenen Taschentuch abwischen mußte.
    »Ich habe Mariette zweitausend Francs eingehändigt«, flüsterte er seiner Schwägerin ins Ohr. Adeline wurde über und über rot. Zwei Tränen hingen ihr an den noch immer langen Wimpern. Sie drückte dem alten Herrn stumm die Hand. Er sah aus wie ein glücklich Liebender.
    »Ich wollte dir mit der Summe sowieso ein Geschenk machen«, fuhr er fort. »Gib sie mir also nicht zurück, sondern wähle dir dafür selber aus, was dir gefällt!«
    Vor Freude ganz zerstreut, ergriff er die Hand, die ihm Lisbeth entgegenstreckte, und küßte sie.
    »Das ist vielversprechend!« bemerkte Adeline zu Lisbeth, wobei sie lächelte, soweit sie das vermochte.
    In dem Augenblick stellten sich die jungen Hulots ein.
    »Mein Bruder kommt doch zu Tisch?« fragte der Marschall in seiner kurzen Art.
    Adeline nahm einen Bleistift und schrieb folgende Worte auf ein Kärtchen:
    »Ich erwarte ihn. Er hat mir heute früh versprochen, zu Tisch hier zu sein. Wenn er aber nicht kommen sollte, dann wird ihn wohl der Minister daran gehindert haben. Er ist nämlich mit Arbeiten überhäuft.«
    Sie reichte ihm das Kärtchen hin. Adeline hatte diese Art Unterhaltung für den Schwerhörigen erfunden. Ein Vorrat von Kärtchen lag nebst einem

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