Tante Lisbeth (German Edition)
Umwelt. Man weiß auf den ersten Blick, den man in ein Interieur wirft, ob da Liebe oder Verzweiflung haust.
Adelines geräumiges Schlafzimmer war mit guten Möbeln aus der Werkstatt von Jakob Desmalters eingerichtet: Mahagoni mit dem Zierat des Empirestils, jenem Bronzebeschlag, dem es gelungen ist, noch kälter zu wirken als der Stil Louis-Seize. Es stimmte einen wehmütig, diese Frau auf dem Empiresessel vor den Sphinxen ihres Nähtisches sitzen zu sehen. Sie sah sehr blaß aus, und ihre zur Schau getragene Heiterkeit war nicht echt. Sie wahrte ihre Empire-Würde ebenso wie ihr Empire-Hauskleid aus blauem Samt. Der Stolz hielt ihr Körper und Schönheit aufrecht.
Am Ende des ersten Jahres ihres Exils in dieser neuen Wohnung war sie sich ihres Unglücks völlig klar.
»Als mein Hektor mich hierher verbannte, hat er mir das Leben immer noch schöner gestaltet, als es einem schlichten Bauernkinde zusteht. Er will es so. Sein Wille geschehe! Ich bin die Baronin Hulot, die Schwägerin eines Marschalls von Frankreich. Ich habe nicht das geringste Schlechte begangen. Meine beiden Kinder sind versorgt. Ich kann dem Tod ins Auge sehen, gehüllt in den reinen Schleier der Frauentreue und in den Trauerflor des entschwundenen Glücks!«
Hulots Porträt, gemalt von Robert Lefebvre im Jahre 1810, in der Uniform eines Oberkriegskommissars der kaiserlichen Garde, hing über ihrem Nähtisch. Wenn Besuch angemeldet wurde, versteckte Adeline ihr alltägliches Lesebuch: »Die Nachfolge Christi des Thomas a Kempis.«
»Liebe Mariette«, begrüßte Lisbeth die Köchin, die ihr die Tür öffnete, »wie geht es meiner verehrten Kusine?«
»Ach, äußerlich ganz gut, gnädiges Fräulein. Aber, unter uns gesagt, wenn sie bei ihren Ideen verharrt, wird sie sich zugrunde richten.« Mariette sprach ganz leise. »Sie sollten ihr zureden, besser zu leben. Gestern hat mir die gnädige Frau befohlen, ihr von jetzt an zum Frühstück für einen Groschen Milch und ein Dreierbrötchen zu bringen. Als Mittagessen soll ich ihr einen Hering auftragen oder ein bißchen kalten Aufschnitt. Dabei soll ich die Woche nicht mehr als ein Pfund Fleisch kochen, selbstverständlich wenn sie allein zu Tisch ist. Sie will für ihr Essen nicht mehr als täglich fünf Groschen ausgeben. Das ist unvernünftig. Wenn ich den schönen Plan dem Herrn Marschall erzählte, würde er sich mit dem Herrn Baron überwerfen und ihn enterben. Sie sind so gut und so gescheit. Sie müssen die Sache wieder ins Lot bringen!«
»Warum wenden Sie sich nicht an meinen Vetter?« fragte Lisbeth.
»Ach, liebstes gnädigstes Fräulein, der ist ja seit etwa drei Wochen nicht hiergewesen. Man kriegt ihn gar nicht mehr zu sehen. Übrigens hat mir die gnädige Frau bei sofortiger Entlassung verboten, den gnädigen Herrn je um Geld zu bitten. Ja, ja, die arme gnädige Frau hat ihren Kummer. Aber es ist das erstemal, daß der Herr sie so lange Zeit vergißt. Jedesmal, wenn es läutet, stürzte sie ans Fenster; aber seit fünf Tagen kommt sie nicht aus ihrem Lehnstuhl. Sie liest. Wenn sie zur Frau Gräfin geht, trägt sie mir immer auf: ›Mariette, wenn der Herr kommen sollte, dann sagen Sie, ich sei da, und schicken Sie schnell den Pförtner zu mir. Er soll ein gutes Trinkgeld bekommen.‹«
»Ärmste Kusine!« heuchelte Lisbeth. »Das ist ja herzergreifend. Alle Tage spreche ich mit meinem Vetter davon. ›Du hast recht‹, sagt er, ›ich bin ein schlechter Mensch. Meine Frau ist ein Engel. Morgen gehe ich zu ihr!‹ Und doch bleibt er immer wieder bei Frau Marneffe. Dieses Weib richtet ihn zugrunde, und er betet sie an. Er vermag ohne sie nicht zu leben. Ich will aber tun, was ich kann.«
»Wenn Sie der gnädigen Frau eine Freude bereiten wollen, dann sprechen Sie vom Herrn Baron. Sie beneidet Sie um das Glück, ihn täglich zu sehen.«
»Ist sie allein?«
»Der Herr Marschall ist da. Er kommt täglich, und die gnädige Frau sagt ihm immer, der Herr Baron sei früh weggegangen und käme erst spät in der Nacht wieder.«
»Gibt es heute etwas Gutes 2u essen?« forschte Lisbeth.
Mariette zögerte mit der Antwort. Lisbeths Blick machte sie unruhig. Da öffnete sich die Salontür, und der Marschall Hulot kam herausgestürzt. Er grüßte Lisbeth, ohne sie recht anzusehen. In diesem Augenblick verlor er ein Stück Papier. Lisbeth raffte es schnell auf und lief ihm auf der Treppe nach. Einem Schwerhörigen nachzurufen hat keinen Zweck; Lisbeth tat aber so, als ob sie es vergeblich
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