Tante Lisbeth (German Edition)
hinaufgegangen. Sie kommt sofort wieder«, gab er zur Antwort.
»Wegen der alten Schachtel läßt sie uns hier sitzen?«
»Fräulein Lisbeth ist von der Frau Baronin, Ihrer Frau Gemahlin, mit einem verdorbenen Magen heimgekommen, und Mathurine hat von Valerie Tee erbeten. Da wollte nun meine Frau gleich selber nachsehen, was Ihrer Fräulein Kusine fehlt.«
»Und der Vetter?«
»Ist fort.«
»Glauben Sie das?« knirschte der Baron.
»Ich habe ihn selber an den Wagen begleitet.« Marneffe lachte häßlich.
Man hörte das Rollen eines Wagens. Der Baron ließ Marneffe stehen und ging zu Tante Lisbeth hinauf. Einer jener Einfälle überkam ihn, die einem durchs Hirn schießen, wenn das Herz vor Eifersucht brennt. Marneffes Gemeinheit kannte er zur Genüge. Natürlich steckt sie mit dem Kerl unter einer Decke! sagte er sich.
»Wohin sind denn unsere Herren und Damen alle?« fragte Marneffe, als er sich mit Crevel allein sah.
»Wenn die Sonne schlafen geht, verkriechen sich auch die Hühner«, brummte Crevel. »Frau Marneffe ist verschwunden, und weg sind die Verehrer. Ich schlage Ihnen eine Partie Pikett vor.«
Crevel hatte keine Lust zu gehen. Auch er glaubte, der Brasilianer sei noch im Hause.
Marneffe willigte ein. Crevel war genauso durchtrieben wie der Baron. Er konnte bei Marneffes bis ins Aschgraue bleiben, wenn er mit dem Ehemanne spielte, der sich seit der Unterdrückung der öffentlichen Spielhäuser mit diesem »lumpigen« Jeu begnügen mußte.
Hulot flog die Treppe hinauf; aber oben war die Tür verschlossen, und das übliche Hin- und Herfragen durch die Tür gewährte den beiden flinken und schlauen Frauen genügend Zeit, um eine kleine Krankenszene zu improvisieren.
Als der Baron eingelassen worden war, blickte er sich verstohlen im ganzen Stübchen um. Es gab wirklich nichts in diesem Schlafzimmer, das sich zum Verstecken eines Brasilianers geeignet hätte.
»Lisbeth, deine Magenverstimmung macht der Küche meiner Frau alle Ehre!« bemerkte er mit einem musternden Blick auf das alte Fräulein. Lisbeth, die munter wie ein Fisch im Wasser war, stöhnte vor Magenkrämpfen und nahm ihren Tee ein.
»Siehst du, wie gut es ist, daß unsere Lisbeth in unserm Hause wohnt? Ohne mich stürbe das arme Kind!« sagte Valerie.
»Du ziehst ein Gesicht, als glaubtest du nicht an mein Kranksein«, beschwerte sich Lisbeth. »Das wäre ruppig von dir!«
»Ach was!« sagte Hulot. »Du weißt also, warum ich heraufgekommen bin?«
Er schielte nach der Tür des Ankleidezimmers; der Schlüssel war abgezogen.
»Wir verstehen dich nicht!« erklärte Frau Marneffe im rührendsten Tone zärtlicher Liebe und verkannter Treue.
»Lieber Vetter«, behauptete Lisbeth, »du bist an allem schuld! Jawohl, deinetwegen habe ich mir den Magen verdorben!«
Diese nachdrückliche Bemerkung verschaffte ihr des Barons Augenmerk. Er sah sie voll Verwunderung an.
»Du weißt, daß ich immer auf deiner Seite stehe«, fuhr Lisbeth fort. »Schon daß ich hier bin, beweist das. Mit allen meinen Kräften sorge ich für dich und für Valerie. Wenn ich nicht wäre, brauchte sie den Monat statt zwei- unbedingt drei- oder viertausend Francs.«
»Weiß ich, weiß ich!« wehrte der Baron ungeduldig ab. »Du verstehst in den schwierigsten Fällen zu helfen!«
Er näherte sich Valerie und umschlang sie.
»Nicht wahr, mein Engel?«
»Bei Gott«, schrie Valerie auf, »ich glaube, du bist verrückt!«
»Gut!« fuhr Lisbeth fort. »Meine Anhänglichkeit an dich wird also von dir anerkannt. Aber ich liebe auch meine Kusine Adeline. Heute habe ich sie überrascht, wie sie weinte. Seit vier Wochen hast du dich nicht bei ihr sehen lassen! Ist das eine Sache? Dabei läßt du die Ärmste ohne Geld! Hortense wäre vor Schreck beinahe gestorben, als sie erfuhr, daß wir heute ohne die Hilfe deines Bruders unmöglich etwas zu essen bekommen hätten. Es war kein Bissen Brot in deinem Hause. Adeline hat den heldenmütigen Entschluß gefaßt, sich fortan allein zu helfen. Sie hat mir gesagt: »Ich will es wie du machen!« Diese Worte haben mir das Herz zerrissen. Ich muß seitdem immer wieder daran denken: Was war meine Kusine im Jahre 1811, und was ist sie heute, 1841, dreißig Jahre später! Das ist der Grund meines Unwohlseins! Ich dachte erst, es wäre weiter nichts; aber seitdem ich wieder zu Hause bin, fühle ich mich sterbenskrank.«
»Siehst du, Valerie«, sagte der Baron ernst, »wohin mich meine heiße Liebe zu dir geführt hat: zu Verbrechen
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