Tante Lisbeth (German Edition)
Gefühlswandlungen. Wie ein Tenor heute besser singt als morgen ...
Darüber schliefen beide ein.
Andern Tags um neun Uhr sprach Hulot davon, ins Ministerium gehen zu wollen. Crevel hatte auf dem Lande zu tun. Sie gingen beide zusammen fort. Als sie sich trennten, bot Crevel dem Baron die Hand und sagte:
»Keine Feindschaft mehr! Nicht wahr! Keiner von uns beiden denkt noch an Frau Marneffe.«
»Ach; das ist ja vorbei!« sagte Hulot. Dabei überkam ihn etwas wie Schaudern.
Halb elf eilte Crevel die Treppe zu Frau Marneffe hinauf, indem er immer vier Stufen auf einmal nahm. Er traf das »schamlose Geschöpf«, die »anbetungswürdige Zauberin« im entzückendsten Morgenkleide der Welt bei einem süperben kleinen Dejeuner in Gesellschaft von Marquis Montes von Montejanos und Tante Lisbeth. Trotz des Widerwillens, den ihm der Anblick des Brasilianers verursachte, bat er Valerie um eine kurze Unterredung. Sie ging mit ihm in den Salon.
»Valerie, mein Engel«, begann der verliebte Crevel, »dein Mann hat nicht mehr lange zu leben. Wenn du mir treu sein willst, wollen wir uns nach seinem Tode heiraten. Überlege dir das! Ich habe dich von Hulot frei gemacht. Überlege dir, ob dieser Exot einen Pariser Bürgermeister aufwiegt, einen Mann, der dir zuliebe nach den höchsten Würden streben will, einen Mann, der seine achtzigtausend und soundso viel Francs Rente hat.«
»Ich will mir's überlegen«, meinte sie. »Um zwei Uhr werde ich in der Rue du Dauphin sein. Wir wollen einmal darüber reden. Aber sei vorsichtig! Und vergiß nicht, mir die Eintragung machen zu lassen, die du mir gestern versprochen hast!«
Sie ging in das Eßzimmer zurück. Crevel folgte ihr. Er war stolz, das Mittel gefunden zu haben, Valerie für sich allein zu besitzen. Da bemerkte er den Baron von Hulot, der während der kurzen Unterredung gekommen war, um dasselbe zu erreichen wie er. Genau wie Crevel bat er Valerie um einen Augenblick Gehör. Frau Marneffe erhob sich wieder, um nochmals mit in den Salon hinüberzugehen, wobei sie dem Brasilianer zulächelte, als wollte sie sagen: Die Schafsköpfe! Du bist doch da!
»Valerie, mein Kindchen!« begann der verliebte Staatsrat, »dieser Vetter, das ist so ein Vetter ...«
»Still!« unterbrach sie ihn heftig. »Marneffe war niemals mein Gatte und wird es nie sein. Der erste, der einzige Mann, den ich geliebt habe, der ist wiedergekommen. Unerwartet. Ich kann nichts dafür. Schau dir nun meinen Heinrich an und dann dich selber! Dann frage dich: Kann da eine Frau, zumal wenn sie verliebt ist, schwanken? Mein Lieber, ich bin kein Frauenzimmer, das sich aushalten läßt. Von heute an hab ich keine Lust mehr, Susanne zwischen zwei Mummelgreisen zu sein. Wenn du zu mir hältst, sollt ihr – du und auch Crevel – meine Freunde bleiben. Alles andere ist aus! Ich bin eine Sechsundzwanzigjährige. Von jetzt an will ich eine unnahbare, treffliche, anständige Frau sein – wie deine es ist.«
»So steht die Sache!« sagte Hulot. »Ach, wenn ich sonst kam, wie hast du mich da empfangen! Wie den Papst. Mit zärtlichen lieben Händen! Ich sage dir aber: dein Mann wird niemals weder Kanzleidirektor noch Ritter der Ehrenlegion!«
»Das wollen wir abwarten!« sagte Frau Marneffe, indem sie den Baron rätselhaft anblickte.
»Na, wir wollen uns nicht ärgern!« meinte Hulot verzweifelt. »Ich werde heute abend wiederkommen. Wir werden uns schon verständigen.«
»Oben bei Tante Lisbeth, ja!«
»Gut, bei Lisbeth«, sagte der verliebte Greis.
Hulot und Crevel gingen zusammen die Treppe hinunter, ohne ein Wort zu sprechen, bis sie auf die Straße kamen. Auf dem Bürgersteig sahen sie einander an und brachen in ein trübsinniges Lachen aus.
»Sind wir beide alte Narren!« bemerkte Crevel.
»Ich habe beiden die Schippe gegeben!« berichtete Valerie, als sie sich wieder an den Eßtisch setzte. »Ich habe nie geliebt, ich liebe nicht und werde keinen andern lieben als meinen Jaguar!« Sie lachte den Brasilianer an. Und zu Lisbeth gewandt, fuhr sie fort:
»Lisbeth, Kindchen, weißt du schon? Heinrich hat mir die Schandtaten verziehen, zu denen mich das Elend gezwungen hat.«
»Ich bin schuld daran. Ich hätte dir hunderttausend Francs schicken sollen!« erklärte Montes.
»Liebling! Arbeiten hätte ich sollen und mich damit durchschlagen! Aber ich. habe nicht die Hände dazu.«
Der Brasilianer ging als der glücklichste Mann in ganz Paris von dannen.
Gegen Mittag plauderten Valerie und Lisbeth in Valeries
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