Tanz auf Glas
unternehmen. Das konnte man ihr nicht verdenken. Sie hatte zwei Fehlgeburten hinter sich, und langwierige Prozeduren konnten das Problem auch nicht beheben: Zervixinsuffizienz. Und das mit Jamie war schon die zweite fehlgeschlagene Adoption. Beim ersten Mal überlegte die Mutter es sich anders, noch ehe das Baby geboren war, und das war hart für Lily, aber nicht so schrecklich, wie Jamie zu verlieren. Nach Jamie war das Thema Baby völlig tabu. Und später erledigte es sich einfach von selbst – ich schwor, mich niemals fortzupflanzen, und Priscilla beharrte darauf, dass sie keine Familie wolle und lieber mit ihrer Karriere verheiratet sei. Doch damals, als Lily ihren Sohn verlor, hätte Ron alles getan, um ihr Herz zusammenzuflicken. Und in seiner Verzweiflung kaufte er ihr ein heruntergekommenes viktorianisches Gebäude im historischen Ortskern von Brinley, und ihr »Baby« wurde ein Antiquitätenladen, den sie »Gespenster vom Dachboden« nannten. Sie unterschrieben den Kaufvertrag am Tag vor meinem einundzwanzigsten Geburtstag, deshalb hatten sie an meinem großen Abend auch etwas zu feiern.
Lily hatte sich riesige Mühe gegeben, eine fabelhafte Party auf die Beine zu stellen. Sie fand den Club und spannte den Besitzer ein, der sich ebenfalls ins Zeug legte. Dann lud sie alle meine Freundinnen ein und sogar ein paar meiner Ersatzmütter. Davon hatte ich im Laufe der Jahre mehrere gehabt, weil ich erst siebzehn gewesen war, als unsere Mutter starb – und damit in den Augen der Frauen von Brinley nicht annähernd erwachsen. Drei Frauen hatten mich besonders innig unter ihre Fittiche genommen, und alle drei kamen an jenem Abend zu meiner Party im Colby’s – Jan Bates, Leony Withers und Charlotte Barbee. Von den dreien stand Jan mir wohl am nächsten. Sie war eine begabte Künstlerin und hatte einmal ein Porträt von Lilly, Priss und mir mit unserem Dad gemalt und es Mom einfach so als große Überraschung geschenkt. Jan hatte nach Kinderfotos von uns gemalt, aber man wäre nie darauf gekommen, dass wir nicht selbst für das Bild Modell gestanden hatten. Es hing bis zu Moms Tod in ihrem Schlafzimmer und seither über Lilys Kaminsims. Jan und Harrison Bates waren die besten Freunde meiner Eltern gewesen, und sie liebten und unterstützten uns wie ihr eigen Fleisch und Blut.
Lily zerrte mich aus Jans Armen und verschlang mich selbst mit einer Umarmung, die ich ebenso fest erwiderte. Meine Schwester war hager geworden und hatte schmale Kummerschatten unter den Augen. Aber sie schaffte es, sich ihren Schmerz nicht anmerken zu lassen, vor allem, als Ron so schief »Happy Birthday« sang, dass uns allen die Ohren weh taten. Priscilla – unser funkelndes Juwel – hatte sich in einer Ecke halb über einen gutaussehenden Mann drapiert, der mir ein wenig rettungsbedürftig erschien. Ich ging hinüber, und sie lächelte mir mit blinkenden Kronen entgegen. Meine älteste Schwester sah unglaublich verführerisch aus in einer engen Jeans und einem noch engeren T-Shirt in der leuchtenden Farbe von Fuji-Äpfeln. Sie flirtete schamlos wie eine Kurtisane, aber Priscilla war ein Mensch der Gegensätze. Wenn man sie so sah, wäre man nie darauf gekommen, dass sie hartnäckig die Karriereleiter als Anwältin für Wirtschaftsrecht erklomm und ihre Gegner der Fähigkeit berauben konnte, in vollständigen Sätzen zu sprechen. Sie war knallhart und gleich dreifach gefährlich: schön, genial und ehrgeizig. Aber Priss hatte auch eine verletzliche Seite, von der kaum jemand außer Lily und mir wusste.
»Hallo«, sagte ich.
»Gleichfalls«, sagte sie und löste die Hände gerade lange genug vom braungebrannten Arm ihres Gegenübers, um mich kurz zu umarmen. »Alles Gute zum Geburtstag, Lu«, flüsterte sie mir hastig ins Ohr. Dann wandte sie sich wieder dem gutaussehenden Mann zu, der mich nun eindringlich musterte.
Ich lächelte. »Ich bin Lucy.«
Er stand auf. Er war sehr groß und hatte breite Schultern und eine schmale Taille. Ich hingegen bin sehr zierlich und knabenhaft, und ich musste aufblicken, um ihm in die Augen schauen zu können. Er streckte die Hand aus, und ich drückte sie.
»Das ist … also, um ehrlich zu sein« – Priss grinste – »weiß ich nicht einmal, wie du heißt.«
»Ich bin Mickey.« Der Mann lächelte ein nettes Lächeln, das ein besonderes Interesse an mir zu verraten schien. Ich sah zu Priss, deren Blick mich warnte, dass sie ihn zuerst entdeckt hätte. Das war ein Jammer, denn er war
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