Tanz auf Glas
zwischen Husten und Quietschen aus und nahm die Bilder mit zitternden Händen.
Ich legte einen Arm um sie und lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Im Moment sieht man noch nicht viel von ihr, aber ich finde sie wunderschön.«
Lily nickte, und ich sah Tränen fließen, während sie die Bilder betrachtete. Eine ganze Weile lang sagte sie nichts. »Sie ist wunderschön«, erklärte sie schließlich. »Aber … wo ist sie, Lu? Was habe ich hier vor mir?«
Ich lachte. Lily lachte ebenfalls, wenn auch unter Tränen.
»Das ist ihr Gesicht im Profil.« Ich zeigte auf das Bild. »Hier sind ihre Beine, und das da sagt uns
Ich bin ein Mädchen.
Und da ist ihre geballte Faust.«
»Oh, sie ist wirklich wunderschön.« Lily schüttelte den Kopf. »Bis gerade eben war mir gar nicht klar, wie sehr ich mir immer eine Nichte gewünscht habe.«
»Ehrlich?«, krächzte ich.
Sie umarmte mich. »Du bekommst ein Baby. Ein kleines Mädchen. Ist das nicht wundervoll?«, murmelte sie in mein Haar. »Schluss damit, dass wir uns aus dem Weg gehen, das halte ich nicht aus. Es ist grässlich. Ich will jede noch so winzige Kleinigkeit wissen, jeden Tag. Darf ich das?«
»Na, das ist das Zweitschönste, was ich heute sehe«, sagte Mickey, der durch die Lobby auf uns zukam.
Lily und ich lösten uns voneinander, und meine Schwester wischte sich die Tränen vom Gesicht.
»Ich hatte gerade das Vergnügen, deine Tochter kennenzulernen«, sagte sie. Dann stand sie auf und umarmte Mickey. »Gut gemacht, Mic. Ich gratuliere.«
»Danke, Lily. Alles in Ordnung?«
»Alles wunderbar. Ich werde Tante, was könnte schöner sein?« Sie küsste ihn auf die Wange. »Ich muss jetzt zurück ins Geschäft. Wahrscheinlich lässt Muriels Schwester gerade den halben Laden mitgehen – diese Gehhilfe täuscht, das alte Mädchen ist ganz schön flott.« Sie lachte leise und putzte sich die Nase. »Ich musste nur kurz rüberkommen, als ich dich gesehen habe«, sagte sie zu mir. »Denk daran, Lucy: jede noch so winzige Kleinigkeit.«
»Versprochen«, sagte ich, und vor Erleichterung wurde mir warm.
Sie küsste mich auf die Wange und ging.
Mickey schlang von hinten die Arme um mich und zog mich an seine Brust.
»Heute ist ein guter Tag, Lu«, raunte er mir ins Ohr.
»Das stimmt. Ein sehr guter Tag.«
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4 . August 2011
P hasen, Episoden. Der Kreislauf ist so vertraut. Ein Teil bin ich, ein Teil meine Medikamente. Fast zwei Monate sind vergangen, seit ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, und ich habe mich von meinem Absturz und Aufstieg erholt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich weder allzu schnell noch allzu hart wieder auf dem Boden der Realität aufgeschlagen bin, denn wenn das passiert, kann es sein, dass ich ihn durchbreche und weiter in die Depression stürze, ein finsteres, zutiefst erschöpfendes Loch, in dem mir alles nur noch gleichgültig ist. Aber zurzeit ist das Leben zu gut, als dass ich diese Entwicklung befürchten müsste. Und selbst wenn nicht, schwere Depressionen hatte ich bisher zum Glück nur selten. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich sehr gut auf Antidepressiva anspreche – so gut, dass sie mich beinahe ohne Vorwarnung in die Manie treiben können. Mein Geisteszustand ist in seinen Schwankungen sehr empfindlich. Ich strebe danach, in dem schmalen Streifen geistiger Gesundheit zu leben, der als sichere Seite der Hypomanie bekannt ist. Wenn die bipolare Störung einen Vorteil hat, dann diesen Zustand erhöhter Energie, der sich leider nicht aufrechterhalten lässt. Er ist nicht statisch, sondern ein Abschnitt auf einem Weg. Wenn man ihn nicht kontrolliert, führt er irgendwann zu der Stelle, die Gleason den »Punkt der Unleugbarkeit« nennt – einen Zustand, in dem ich hilflos der Psychose ausgeliefert bin, ohne mir dessen bewusst zu sein.
Für mich sieht dieser Zyklus so aus: kleine Störungen im Schlafrhythmus, Stimmungen, die scheinbar ineinanderfließen, eine subtile Veränderung meiner Realitätswahrnehmung. Ideen erscheinen mir ungewöhnlich genial, dann nehmen die Schlafstörungen zu, noch mehr geniale Ideen strömen fließend hervor, erst langsam, täuschend langsam, doch dann schießen sie durch das Sieb meines Verstandes, obwohl ich diese Gedanken aufzufangen versuche, weil sie so gut sind, aber sie zerrinnen mir wie Wasser zwischen den Fingern. Ich brauche noch weniger Schlaf, bin aber nicht müde, sondern aufgedreht, kann noch klar denken, beginne aber, meinen Zustand und meine Gedanken
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