Tanz auf Glas
anzuzweifeln. Wenn ich an diesem Punkt stehe, kann mein Kurs noch korrigiert werden, genau hier – keine Handbreit weiter. Aber es fühlt sich so gut an, ich arbeite wie besessen, habe keine Zeit zum Schlafen, ich will gar nicht schlafen und bin so extrem lebendig, dass ich mehr Hände bräuchte, um alles zu schaffen. Was? Das entgleitet mir. Meine Gedanken werden wirr, aber noch ist mir bewusst, dass ich die Kontrolle verliere. Ich brauche Schlaf, aber jetzt kann ich nicht mehr schlafen, weil ich mein Gehirn nicht mehr abschalten kann. Das ist der Rand des Abgrunds. Noch einen Schritt weiter, und ich stürze ab, verliere den Kontakt zur Realität, bin mir dessen aber nicht bewusst. Ich werde wütend, weil alle mich zu kritisieren scheinen, mir sagen, wie ich leben und was ich tun und lassen sollte. Was wissen die schon? Ich kriege das allein wieder hin, mit Pillen, die scheinbar aus irgendeinem Grund nicht mehr wirken. In meiner Genialität verdoppele ich die Dosis einiger Medikamente und lasse andere weg, die ich für den Auslöser all dieses Ärgers halte. Das ist die Grenze zum Wahn, und ich stehe schon mit einem Fuß darin.
Ich kenne diesen Zyklus: den Absturz und Aufstieg, das Ausbalancieren dazwischen. Ich habe gelernt, dass Vertrauen der Schlüssel ist. Ich kann mir selbst nicht trauen, und ich habe mein bisheriges Leben lang gebraucht, um das zu begreifen. Aber ich vertraue Lucy, und ich vertraue Gleason. Ron und Jared haben mich auch noch nie belogen. Sie alle sagen mir, ich müsse den Pillen vertrauen, um meine Geschwindigkeit zu drosseln, bis ich das Tempolimit wieder einhalte. Bis ich wieder ebenen Boden erreicht habe oder zumindest knapp darüber schwebe, aber nicht darunter absinke – bloß nicht darunter, wenn es irgendwie geht. Ich gebe mir Mühe, dieses Level nicht zu unterschreiten und in tiefer Verzweiflung zu landen. Aber auch das gehört zu dem Zyklus dazu.
Ich sah mich in Charlotte Barbees Sprechzimmer um und bemühte mich, mein Zittern in den Griff zu bekommen. Drei Tage waren vergangen, seit ich mit Mickey hier gewesen und über ein völlig normales Ultraschallbild in Verzückung geraten war. Charlotte hatte mich heute Nachmittag nicht einmal selbst angerufen. Das hatte sie Bev Lancaster überlassen, und Bev sagte, sie habe keine Ahnung, warum Charlotte mich sehen wolle. Mir stockte der Atem, und jetzt wartete ich auf sie, von Grauen erfüllt. Was konnte in den letzten drei Tagen geschehen sein, das mir jetzt solche Angst einjagte?
Endlich kam Charlotte herein und setzte sich mir gegenüber an ihren Schreibtisch. Sie räusperte sich ein paarmal und wich meinem Blick aus.
»Danke, dass du gleich gekommen bist, Lucy.«
Ich verschränkte so fest meine Hände, dass die Knöchel weiß wurden. »Charlotte, was ist los? Stimmt etwas nicht?«
Sie holte tief Luft. »Ich glaube nicht. Ich glaube es wirklich nicht, Lucy.« Ihr Tonfall war fest und voller Überzeugung. »Aber ich habe deine Mammographieaufnahmen mit dem Ultraschall von vor ein paar Tagen verglichen, und an diesen neuesten Bildern gefällt mir etwas nicht so ganz. Mir wäre wohler, wenn du noch einmal gründlich von einem Kollegen untersucht würdest.«
»Okay«, hörte ich mich selbst sagen.
»Lucy, ich bin mir so gut wie sicher, dass sich diese minimale Veränderung durch die Schwangerschaft erklären lässt. Ich habe mir die Aufnahmen hundertmal angesehen und …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nur sichergehen, dass kein Anlass zur Sorge besteht. Und auch das nur wegen deiner Krankheitsgeschichte, die ja der Grund für die häufigen Kontrolluntersuchungen ist. Bei dir bin ich einfach prinzipiell misstrauisch, bis ich Gewissheit habe.«
»Und jetzt macht dich etwas misstrauisch?« Ich wollte es klar und deutlich hören.
Sie schüttelte den Kopf, sagte aber: »Nur ein bisschen. Ich habe die Ultraschallaufnahmen einem Radiologen geschickt, der noch stärker spezialisiert ist als der Arzt, mit dem wir sonst zusammenarbeiten. Ich wollte eine zweite Meinung hören, und er stimmt mir zu, dass das, was wir da sehen, wahrscheinlich auf deine Schwangerschaft zurückzuführen ist. Moment, ich zeige es dir.« Sie klemmte drei Bilderreihen an die weiße Glasscheibe hinter ihrem Tisch und schaltete die Beleuchtung ein. »Diese Aufnahmen sind ein Jahr alt, diese zwei Monate, und das sind die von vor drei Tagen.«
»Was soll ich da sehen?«
»Es ist schwer zu erkennen, aber diese Stelle hier ist ein kleines bisschen
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