Tanz auf Glas
Lily kam ebenso wenig in Frage wie Mickey, und zwar aus fast identischen Gründen. Einen flüchtigen Moment lang dachte ich an Ron. Ich hätte mir keinen besseren Schwager wünschen können. Ron war kein Schwarzseher, und er war gelassen und gefestigt und realistisch. Er würde mir nicht tausend Fragen stellen, sondern nur meine Hand halten und die vielen unausgesprochenen Möglichkeiten mit mir ertragen. Aber dann würden wir Lily sagen müssen, wo wir gewesen waren, und sie wäre vielleicht verletzt, weil er der bessere Kandidat war als sie. Ich konnte ihn nicht in diese Zwickmühle bringen.
Letzten Endes fuhr ich mich tüchtiges, großes Mädchen selbst zum New Haven Center for Oncological Research Hospital. Der riesige Gebäudekomplex wirkte steril und unfreundlich, bis hin zu der jungen Frau an der Anmeldung in Gebäude D, Raum 410 , Reproduktionsmedizin, Abteilung bildgebende Diagnostik. Ich nannte der Frau meinen Namen. Sie überflog ihren Computerbildschirm und sagte, ich hätte keinen Termin. Ich erklärte ihr, das wisse ich, aber Dr. Charlotte Barbee in Brinley hätte mich hergeschickt. Ebenso gut hätte ich behaupten können, dass ich vom Mond kam. Tina Pulsifer, so stand es auf ihrem Namensschild, blieb dabei, dass ich unmöglich heute noch einen Arzt sehen könne. »Niemand hat auch nur eine freie Minute für jemanden ohne Termin«, sagte sie, als wäre ich Laufkundschaft beim Friseur.
»Ich will auch nicht zu
einem
Arzt – ich soll zu Dr. Roland Matthews gehen.«
Ihr blieb der Mund offen stehen. »Sie machen wohl Witze.«
»Wenn Sie wüssten, warum ich hier bin, wäre Ihnen klar, dass mir nicht nach Witzen zumute ist, Ms Pulsifer. Dr. Charlotte Barbee hat das mit ihm abgesprochen. Es ist mir egal, wie lange ich warten muss, aber sagen Sie ihm bitte, dass ich hier bin.«
Ihre perfekten rosigen Lippen teilten sich erneut, und mit einem perfekten kleinen Seufzer griff sie zum Telefon. »Das wird eine Weile dauern. Dr. Matthews operiert gerade. Haben Sie Ihre Aufnahmen dabei?«
Ich reichte ihr den Umschlag. »Er operiert? Ich dachte, er sei Radiologe.«
»Er ist kein Radiologe – er ist der Chefarzt.«
Die Panik, die ich bisher mit einer dicken Watteschicht gedämpft hatte, regte sich in mir.
»Bitte nehmen Sie Platz, Mrs Chandler. Ich lasse ihn anpiepsen.« Damit war ich entlassen. Ich ging durch das vollbesetzte Wartezimmer leicht schwankend zu einem der Stühle in Chrom und Leder, ultramodern und unbequem.
Während ich eine kleine Ewigkeit auf diesem grässlichen Stuhl saß, ging ich Charlottes Worte noch einmal durch und fand ihre Ruhe auf einmal fragwürdig. Immer wieder versuchte ich in Gedanken ihre Stimme zu hören, die mir sagte, es bestünde kein Grund zur Sorge. Inmitten dieser Geistesübungen hörte ich meinen Namen, blickte auf und sah einen großen, dünnen Jungen auf mich zukommen. »Lucy Chandler?«
Ich nickte.
Er lächelte. »Ich bin Owen Peters, Dr. Matthews’ persönlicher Assistent. Wenn Sie bitte mitkommen würden, ich bringe Sie rauf in die Chirurgie.«
»Wie bitte?«, fragte ich und hatte auf einmal nicht die Kraft, aufzustehen. »Ich bin nicht wegen einer Operation hier.«
»O nein, Entschuldigung. Ich meinte, ich bringe Sie rauf zu Dr. Matthews. Er ist gerade im OP , aber er möchte Sie sehen.« Owen hielt den Umschlag mit meinen Bildern in der Hand.
»Es ist sehr nett von ihm, mich heute noch dranzunehmen«, sagte ich und versuchte, meine Nerven zu beruhigen. Ich folgte dem großen jungen Arzt zu den Fahrstühlen. Keiner von uns sprach ein Wort, während wir in den fünften Stock zu den Operationssälen fuhren. Ich betrachtete Owens gleichgültige Miene, die sich in der glatten Metalltür spiegelte, und fragte mich, warum er nicht netter war, gesprächiger, warum er nicht gelernt hatte, nervöse Frauen zu beruhigen.
Der Aufzug blieb stehen, und er geleitete mich in ein Sprechzimmer und sagte, Dr. Matthews werde gleich kommen. Ich sah mich um. Der kahle Raum schien niemandes Sprechzimmer zu sein, er war kalt und unpersönlich, und meine flatternden Nerven kamen hier wahrlich nicht zur Ruhe. Zum Glück dauerte es nur wenige Minuten, bis Owen Peters zurückkehrte. Er lächelte sein unaufrichtiges Lächeln und sagte: »Mrs Chandler, würden Sie bitte mitkommen? Dr. Matthews hat sich Ihre Aufnahmen angesehen und würde Sie gern untersuchen.«
»Wirklich? Hat er etwas gefunden?«, fragte ich und bemühte mich, mit ihm Schritt zu halten.
»Ich weiß es
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