Tanz der Dämonen
junge Burschen waghalsig bis zum Firstbalken emporgeklettert und schrien den unten Wartenden zu, was sie am Ende der Gasse sehen konnten: »Sie kommen!«
Dort zogen, jetzt auch für mich schon erkennbar, berittene Stadtsoldaten in schimmernder Rüstung auf. Viele jubelnde Stimmen erschallten, und der Tumult näherte sich rasch. Standartenträger. Trommler und Pfeifer. Landsknechte. Dann die Honoratioren der Stadt und die Leute des Kaisers, ein Haufen prächtig gekleideter Männer. Einige Bürger, alt und dick, machten im Sattel keine gute Figur. Hatten vielleicht schon lange nicht mehr zu Pferde gesessen. Ihre aufgeputzten Gäule wurden von Knechten an der Kandare gehalten. Pfeffersäcke!, dachte ich.
Dann einige Offiziere mit arroganter Miene, die solche Hilfe nicht nötig hatten. Schließlich die Majestäten selber, von der Menge begeistert begrüßt. Ferdinand, der neu gewählte König, trug ein blaues Wams mit Silber, auf dem Kopf eine glitzernde Kappe.
Aber wieder keine Krone, dachte ich enttäuscht. Ob er sie wohl in der Satteltasche stecken hatte? Unfug!, schalt ich mich im Stillen. Hatte ich denn nicht reden gehört, er sei unterwegs nach Aachen, um sich dort erst krönen zu lassen? So entsprach es wohl dem üblichen Zeremoniell.
Kaiser Karl V. wirkte eher unauffällig in seinem engen schwarzen Lederkoller und dem einfachen, aber kostbar verbrämten,weiten Samtmantel. Der Zug stockte, als der Monarch sich gerade vor mir befand. Da entstand Bewegung unter den Schaulustigen. Misstrauisch sahen die Wachsoldaten herüber. Fürchteten sie einen Anschlag? Doch es war nur ein aufgeputzter Fettsack, der ein dröhnendes »Vivat!« loswerden wollte. Arschkriecher! Das Pferd des Kaisers scheute, und die Menge wich erschrocken zurück. Der Kaiser ließ sich aber nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Mit einer schnellen, ruhigen Parade hielt er das Tier im Griff, einen prachtvollen nachtschwarzen Zelter. Und nicht einen Augenblick verlor er seine gelassene Haltung. Während dieser kleinen Episode, die sich so nahe bei mir abspielte, hatte ich genau denselben Eindruck wie neulich, als ich den Herrscher schon einmal vor Augen gehabt hatte: dass er allem, was um ihn her geschah, mit einer seltsamen Versonnenheit begegnete; sie löste die Empfindung aus, er sei mit seinen Gedanken bei weit entfernten Dingen, die eigentlich seine ganze Aufmerksamkeit erfordert hätten.
Es war entschieden etwas Melancholisches an ihm, fand ich. Etwas, das meine Phantasie entzündete. Und natürlich kam mir wieder der gläserne Becher meiner Mutter in den Sinn. Ihr bleiches, schönes Gesicht …«Ein Geschenk von ihm ; da trug er noch keine Krone!«
Gerade jetzt, als der Zug sich wieder bewegte und das Jubelgeschrei der Leute noch einmal heftig aufbrandete, fiel unerwartet der Blick des Kaisers auf mich. Vielleicht deshalb, weil ich auf einem so hohen Posten saß und weder schrie noch mich rührte. Es war nur ein winziger Moment, aber der kam mir ewig lang vor. Er sah mich an! Er lächelte nicht, aber zweifellos hatte er mich bemerkt. Auf eine unerklärbare, tief greifende Art war ich erschrocken. Da war etwas wie Erkennen in diesem Blick gewesen, eine Regung, die sich nicht beschreiben ließ. Welcher Unsinn! Er kannte mich nicht und würde mich niemals kennen. Oder?
Wieder die Stimme meiner Mutter: »Was es damit auf sich hat, kannst du jetzt noch nicht verstehen. Erst wenn du größer bist, werde ich es dir erklären können …«
Da war der Zug schon weitergerückt, und die Menge strömte davon, um ihrer Aufregung Luft zu machen. Dabei würde man schnellstens die nächsten Kneipen und Kaschemmen aufsuchen, damit man sich ausschwatzen und sich gehörig die Nase begießen konnte.
Ich für meinen Teil ging mit Unbehagen davon. Schon wieder war diese Erinnerung aufgetaucht, eine Erinnerung, die sich lange verborgen gehalten hatte und gleichsam unter der Oberfläche meines Bewusstseins geruht hatte. Eine winzige und vielleicht bedeutungslose, vielleicht aber auch die alles erklärende und für mich auf jeden Fall eine äußerst beunruhigende Erinnerung. Gewiss hatte ich damals nichts verstanden. Aber vielleicht – verstand ich jetzt?
Wie denn, wenn der Kaiser mein Vater wäre? Welch ein Aberwitz! Ich schalt mich wegen dieser Narretei. Er ist zu jung, dachte ich. Er ist erst dreißig! Aber wenn ich vielleicht gar nicht sechzehn bin, wie Vater Sebastian behauptet hat, sondern ein paar Jahre jünger? Sogleich musste ich über diesen Unsinn
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