Tanz der Engel
anscheinend war die Allee unter dem Canal Grande nicht neu für sie.
Mir blieb tatsächlich die Luft weg. Engel, ebenso prachtvoll herausgeputzt wie die Häuserfassaden, flanierten vorbei an den Läden, Cafés und Kunstgalerien den breiten, mit Bäumen und wohlduftenden Frühlingsblumen gesäumten Boulevard entlang. So ähnlich hatte ich mir Venedig zu Casanovas Zeiten vorgestellt: Gestalten mit und ohne Masken in schwarzen Mänteln oder Männer in bunten, mit Rüschen verzierten Gehröcken, Frauen in ausladenden Brokat- oder Spitzenkleidern, extravagantem Kopfschmuck in Form von Hüten, mit Schleiern oder kunstvoll aufgetürmten Frisuren und tiefen Ausschnitten.
Doch die Welt der Engel war wesentlich farbenfroher. Gutgenährte, dralle Kleinkinder mit winzigen Flügelchen, die sehr an Puttenengel erinnerten, flatterten unkoordiniert über die Köpfe der Flanierenden hinweg. Von ihnen gab es offenbar so viele wie Tauben auf dem Markusplatz. Selbst in den Läden und Cafés wimmelte es von Putten, die, trotz ihrer kindlichen Gesichter, bei genauerem Hinsehen älter wirkten als zunächst vermutet. Sie bedienten Kunden, servierten Getränke in filigranen Porzellantassen oder Leckereien, bei deren Anblick mir das Wasser im Mund zusammenlief.
Aber es gab auch andere Lebewesen. Sie wurden an silber-, gold- oder sonst wie glänzenden Leinen spazieren geführt. Manche sahen aus wie Pudel oder Chihuahuas, andere wie Katzen oder Minigeparden. Die meisten aber ähnelten einer wilden Mischung aus verschiedenen Arten, zusammengesetzt aus den Teilen, die ihren Besitzern am besten gefielen. Manche waren wunderschön, andere bizarr, furchterregend oder – für meinen Geschmack – einfach nur hässlich.
»Was, verdammt noch mal, ist das?!«, rief Hannes, als eine geschuppte Mixtur mit Flügeln, von einer rotgoldenen Schnur wie ein Lenkdrachen gehalten, über seinen Kopf hinwegsegelte.
»Gezähmte Irrlichter. Sie können ihre Gestalt verändern.« Noch während Paul erklärte, was ich bereits ahnte, wechselte der knopfäugige Drachen seine Farbe von grün zu goldschillernd.
»So was will ich auch haben«, seufzte Erika.
Paul und Sebastian verdrehten gleichzeitig die Augen.
»Dann sieh zu, dass du in deinen Schutzengeljahren saubere Arbeit ablieferst«, erklärte Sebastian.
»Und die Prüfung bestehst«, ergänzte Paul und drängte weiter. »Aber jetzt müssen wir ein Portal finden.«
»Das wohin führt?«, fragte Susan. »Wir sind doch schon in unserer Welt.«
»Und genau das macht das Ganze ja so schwierig. Es ist kein Wächterportal, das wir suchen, sondern ein an Engelsmagie gebundenes«, ergänzte Sebastian Pauls Erklärung.
»Und wie findet man so was?«, bohrte Susan weiter. »Der Typ heute Morgen hat ja nur gesagt, dass es nicht für alle einen Zugang gibt.«
Sebastian und Paul zuckten die Achseln. »Keine Ahnung. Am besten, wir fragen uns durch.«
Wir teilten uns in Zweiergruppen: Protegé mit Schutzengel. Nach einigen unfreundlichen oder gar keinen Antworten übernahm Lisa die Fragerei – was besser funktionierte. Vielleicht erkannten die Engel, dass ich anders war als sie, und trauten mir nicht. Oder sie hielten mich für ein Irrlicht, das versuchte, wie ein Engel auszusehen, und dämliche Fragen stellte.
Abgesehen von ein paar vagen Hinweisen, im Norden oder Osten zu suchen, erhielten wir keinen hilfreichen Tipp. Leonie und Erika kehrten wesentlich erfolgreicher an unseren vereinbarten Treffpunkt unter den Platanen zurück.
»Wir sollen zum zweitgrößten Platz gehen, wurde uns gesagt.«
»Ja, das haben wir auch gehört«, antwortete Paul.
»Womit die Aufgabenstellung einen Sinn ergibt: Ihr müsst zum Zweitgrößten gehen «, ahmte Hannes die Stimme des Engels nach, der uns die Aufgabe erklärt hatte.
»Und? Welches Problem gibt’s dann jetzt noch zu lösen?«, fragte Sebastian, da Paul und Leonie sich nicht in Bewegung setzten, sondern zu diskutieren begannen.
»Wenn du uns sagen kannst, wohin wir gehen sollen: keines mehr«, antwortete Leonie.
»Na, zum Markusplatz. Wohin sonst?«
»Das, lieber Sebastian, ist der größte Platz«, klärte Leonie ihn auf.
»Was du nicht sagst«, ätzte Sebastian. »Und daneben, die Piazetta, ist der zweitgrößte.«
»Nicht unbedingt«, gab Paul zu bedenken. »San Polo könnte größer sein.«
Sebastians Drang, loszustürmen, erlosch. »Und was jetzt? Sollen wir etwa knobeln?«
»Nein, das müssen wir nicht«, antwortete ich. Alle drei schauten mich an, als
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