Tanz der Engel
hätten sie vergessen, dass auch ich eine Prüfung zu bestehen hatte. »Wir sollen ein Portal mit Engelsmagie finden. Der Vorplatz des Dogenpalasts sieht genauso aus wie in Venedig. Anders als bei den unterirdischen Kanälen, die es dort nicht gibt, braucht es keine Engelsmagie, um ihn zusammenzuhalten.«
Aron hatte mir erklärt, dass die Kapelle am See, die in meiner alten Welt nicht mehr existierte, mit Hilfe von Engelsmagie vor dem Zerfall bewahrt wurde. Das Schloss dagegen benötigte keine, da es in beiden Welten vorhanden war, genau wie der Vorplatz des Dogenpalasts. Darum hatte ich nichts gespürt, als ich ihn betreten hatte.
»Und nach San Polo führen – je nachdem, ob man die Kanäle mitrechnet – acht beziehungsweise zwölf Straßen. Also genügend Möglichkeiten, ein Portal einzurichten.«
»Oder Sackgassen«, ergänzte Paul und schenkte mir ein Lynn-Grinsen. »Offensichtlich waren Arons Kartographiestunden doch keine Zeitverschwendung.«
Wir blieben auf dem überfüllten Canal-Grande-Boulevard. Die unterirdische Welt der Engel zu erleben fühlte sich genauso seltsam an, wie der hektischen Betriebsamkeit auf dem Canal Grande im Venedig der Menschen von unten zuzusehen: Boote, Wassertaxis, rotierende Schiffsschrauben und stochernde Gondolieri – alles war da, selbst die Rialtobrücke. Und doch wirkte es so irreal, als würde ein Film über unseren Köpfen abgespielt.
Sebastian, der schnell zum Portal kommen wollte, schlug eine Abkürzung vor. Ein Fehler, der uns wertvolle Zeit kostete.Die schmalen Kanäle, die wir passierten, schluckten das spärliche Licht. Die Fassaden verloren sich in der Höhe, weshalb wir uns nicht länger am Aussehen der Häuser orientieren konnten. Zusätzlich erschwerten die vielen Stufen und verzierten Treppen, die abzweigten, um höher oder tiefer gelegene Gassen mit dem Kanalsystem zu verbinden, dass wir zügig vorankamen.
»Ich glaube, wir sind zu weit«, sagte Paul. »Wir hätten viel früher nach links abbiegen müssen.«
Sein Einwand stoppte Sebastians Tatendrang. Verlegen fuhr er sich durch seine rotblonden Haare. »Ich fürchte, du hast recht«, gab er zu. »Aber wenn wir jetzt rechts und dann gleich wieder links gehen und dem nächsten Kanal folgen, müssten wir meiner Meinung nach auf eine der Gassen stoßen, die Richtung San Polo führt.«
Paul, der wohl in Gedanken Sebastians Route abgelaufen war, nickte. »Ja. Das könnte klappen.«
Wir stiegen die Stufen hinauf, die in die höhergelegene Gasse führten: ein von Engelsmagie beleuchteter Tunnel. Das Wasser darüber fehlte, weshalb wir die Geschosse der Gebäude oberhalb des türkisblau funkelnden Kunsthimmels nicht sehen konnten. Noch waren die Häuser hübsch und ansehnlich, ihre Fassaden mit Stuck, Ornamenten und Farbe verziert. Doch je tiefer wir in das Labyrinth der unterirdischen Engelstadt eintauchten, umso trister und bizarrer wurden die Häuser und die Geschöpfe, die wir dort antrafen. Die Fensteröffnungen der Gebäude – falls es überhaupt noch welche gab – waren entweder verdreckt, verklebt oder zugenagelt. Angenehme Frühlingstemperaturen gab es hier auch nicht mehr, und unter dem nur spärlich leuchtenden Himmel schien eine graue Schmutzschicht zu schweben.
Die Erinnerung an ähnlich schwarzen Nebel ließ mich frösteln. Totenwächter hinterließen dunkle Nebelschwaden. Vielleicht lebten auch sie in der verborgenen Stadt der Engel.
Schließlich gaben Paul und Sebastian zu, dass wir uns verirrt hatten.
»Und jetzt?« Leonie stemmte die Hände in die Hüften. Sie versuchte taff zu wirken.
Unsere Protegés waren es nicht mehr. Erika und Susan klebten aneinander wie siamesische Zwillinge, Hannes hing an Sebastians Fersen, und Lisa zitterte wieder. Anstatt sich an mich zu halten, verlor sie Sebastian keine Sekunde aus den Augen. Wahrscheinlich hätte sie sich an ihn geklammert, wenn sie mehr Mut besessen hätte. Ich nahm es ihr nicht übel, dass sie den hünenhaften Engel mir vorzog.
»Am besten, wir kehren um«, schlug Sebastian vor.
»Und du bist dir sicher, dass du denselben Weg wieder zurückfindest?«, hinterfragte Leonie Sebastians Orientierungssinn.
»Zu achtzig Prozent«, gab Sebastian zu.
»Das reicht mir nicht«, antwortete Paul. »Es wäre vernünftiger, einen Kanal zu suchen, wo wir wieder in die Welt der Menschen sehen können.«
»Und voilà: Wir kennen uns wieder aus!«, stimmte Sebastian Pauls Vorschlag zu.
Drei Gassen weiter und zwei Ebenen tiefer stießen wir endlich
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