Tanz der Engel
fand Paul den Zugang. Sein Kopf tauchte vor uns im Kanal auf.
»Worauf wartet ihr noch? Es ist mollig warm und stinkt überhaupt nicht«, scherzte er.
Lisa zitterte schon beim Anblick des kalten Wassers, was bewies, dass sie tatsächlich erst seit kurzem ein Engel war und wie ich noch die Eigenschaft besaß, frieren zu können. Und genau wie sie zuckte ich zurück. Das schwarze Wasser war nicht nur eisig kalt, es erinnerte mich auch an die Dunkelheit im See, in der die Totenwächterin mich empfangen hatte. Lisa bemerkte mein Zögern und sah mich ängstlich an. Sie war mein Protegé und wartete auf meine Entscheidung.
Ich nickte mit gespielter Entschlossenheit, sagte: »Dann wollen wir mal!«, und ließ mich hinter Leonie und Erika in den Kanal gleiten.
Auch der Geruch war übel. Ich presste meine vor Kälte und Angst zitternden Lippen zusammen – schlucken wollte ich das Zeug auf keinen Fall – und tauchte ab. Finsterste Nacht umschlang mich. Dunkle Erinnerungen lähmten mich. Panik erwachte. Die Hände der Totenwächterin packten mich. Ich wehrte mich, kämpfte gegen den Sog – und wurde dennoch in die Tiefe hinabgezogen.
Warum nur musste es immer Wasser sein?!
Ein heller Lichtfleck erschien, wurde größer und weitete sich zu einer Öffnung. Mein Widerstand wuchs. Ich wollte alles, nur nicht da reingezogen werden! Verzweifelt versuchte ich die Hände loszuwerden, die meine Beine umschlangen, und trat um mich. Noch ehe mein Fuß in Sebastians Gesicht landete, erkannte ich, wer mich zum Portal schleppte. Als er begriff, was ich vorhatte, ließ er mich los und verschwand in der Öffnung. Doch die paar Meter schaffte ich jetzt, da ich meinen Verstand wieder unter Kontrolle hatte, auch ohne ihn. Allerdings gab es da noch jemanden, den ich mitnehmen musste.
Zwei Meter hinter mir entdeckte ich Lisa. Sie war mir gefolgt – wenigstens mein Protegé nahm nicht Reißaus vor mir. Doch als sich unsere Blicke trafen, änderte sie ihre Meinung. Ihre schreckgeweiteten Augen verrieten ihre Furcht. Offenbar hatte sie meinen ungewollten Zweikampf mit Sebastian mitangesehen. Ich zögerte nicht, packte ihren Fuß und zog sie hinter mir durch das Portal. Ihre Angst legte sich, als sie die anderen entdeckte und Sebastian mir mit einem »Vielleicht sollten wir mal zusammen trainieren, du bist stärker, als du aussiehst!« freundschaftlich auf die Schulter klopfte.
Wir waren nicht die einzige Gruppe, die den Dogenpalast durch die Pforte im Kanal erreichte. Pauls Wächterengel-Eignung hatte sich schnell herumgesprochen, und viele, die keinen anderen Zugang finden konnten, folgten uns. Im Gegensatz zu Sebastian nahm Paul das sportlich.
»Wir alle sind Prüflinge. Dass wir den anderen helfen konnten, zeigt nur, wie teamfähig wir sind.«
Kapitel 29
Verschlungen
E r besuchte mich in der Nacht. Schreien war zwecklos. Niemand würde mich hören, wenn der schwarze Engel mit den goldgelben Augen seine Klauen in mein Herz bohrte. Der Schmerz fühlte sich echt an, doch ich wusste, dass es nur ein Traum war. Ob der Engel mich manipulierte oder ob ich wirklich nur von ihm träumte, wusste ich nicht, als ich schluchzend erwachte.
Bibbernd lag ich in einem schmalen Bett unter einer viel zu dünnen Decke in einem kalten, dunklen Zimmer irgendwo in der Nähe des Dogenpalasts. Wo genau, hatte der Engel mit der Pestmaske uns nicht verraten. Wenigstens waren auch die anderen Engelschüler hier untergebracht, was mich eigentlich trösten sollte – es aber nicht tat. Christophers Zuversicht und die Sicherheit, die ich bei ihm fand, fehlten mir. Ich riss mich zusammen. Paul hatte mir geholfen und Sebastian auch. Ich musste die Prüfungen nicht allein durchstehen.
Die Prüfungen! Wie konnten Aron und Christopher ihn übersehen?! Oder hatten sie nur geschwiegen, um mich nicht schon davor in ein angstzerfressenes Engelsweichei zu verwandeln?
Sanctifer hatte jetzt wieder seine Finger im Spiel. Als Mitglied des Rats war es ihm bestimmt möglich, die Prüfungen zu beeinflussen. Dass er die Regeln ändern konnte, bezweifelte ich. Trotz Pauls Hilfe auf dem Markusplatz und meines Besuchs in der Basilika war ich noch hier. Der Engel mit der Kastenmaske hatte auch mich beglückwünscht, als er mir das Wächterband abnahm und mir eine Unterkunft zuteilte. Wenn Sanctifer dieMacht besaß, mich durchfallen zu lassen, dann hätte er es heute getan.
Oder wollte er mich noch dabeihaben, um mir zu zeigen, wie wenig ich draufhatte? Und wie erbärmlich ich
Weitere Kostenlose Bücher