Tanz der Engel
war?
Ich presste meine Handflächen gegeneinander. Er würde mich nicht bekommen. Lieber ging ich in Flammen auf.
Bestens gelaunt betrat Sebastian den langgestreckten, mit Holzbänken und massiven Tischen möblierten Speisesaal.
»Hallo Lynn. Schlafen hilft gegen Augenringe – zumindest in den ersten hundert Jahren. Du solltest das wirklich mal ausprobieren.«
Auf seinen miesen Witz zu antworten war mir zu blöd. Sebastian war viel zu gut drauf. Wahrscheinlich hätte ich heute im Schlagabtausch mit ihm eh den Kürzeren gezogen.
»Wie geht’s deinen Armen?«, flüsterte Paul. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er sich neben mich auf die Bank gesetzt hatte.
»Gut. Und dir?«, antwortete ich laut.
»Bestens. Ich bin der Held des Tages. Dank meinen Fähigkeiten haben fünf weitere Gruppen die Chance auf ein Ticket zum Ball.«
»Lass dir einen Tanz reservieren, solange die Mädels auf dich stehen. Dann komme ich vielleicht darum herum, mit dir tanzen zu müssen«, sagte Leonie.
Lisa kicherte hinter vorgehaltener Hand. Wenn sie mit unserem Geplänkel mithalten wollte, musste sie noch um einiges lockerer werden.
Das Gemurmel verstummte. Vierzig oder mehr maskierte Engel in Schwarz betraten den Saal. Der mit der eckigen Maske trat vor, hob die Arme und beglückwünschte uns, ein Portal gefunden zu haben.
»Heute werdet ihr ein zweites finden müssen. Um euch einwenig herauszufordern, gibt es nur wenige Zugänge in der Stadt der Engel, die euch dorthin führen, wo wir euch erwarten. Wenn ein Portal zu oft geöffnet wird, verschließt es sich. Ihr müsst zum Zweitgrößten gehen. Wer kein offenes Tor findet, scheidet aus. Eure Tagesaufgabe ist dort allerdings noch nicht zu Ende. Nur die Gruppe, die ihre Protegés beschützen kann, wird auch morgen noch dabei sein.«
Nicht nur ich bekam eine Gänsehaut. Auch auf Leonies Unterarmen richteten sich die Härchen auf, als die maskierten Engel ausschwärmten. Einer mit Schnabelmaske blieb vor unserem Tisch stehen. Ich war froh, dass weder goldene noch royalblaue Augen unter der Maske hervorblitzten.
Unser Spaziergang führte uns tiefer in die Engelstadt als am Tag zuvor. Nicht nur durch noch verwinkeltere Keller und Flure, sondern auch nach unten. Wie das funktionierte, ohne nass zu werden, merkte ich schnell: Es wimmelte von Engelsmagie.
Meine Haut prickelte alle paar Meter. Selbst mein Mund fühlte sich an, als kaute ich Brausepulver. Zum Glück dauerte die Wanderung dieses Mal nicht so lange. Sie endete am Fuß einer Treppe in einem quadratischen Raum, aus dem vier Türen führten.
»Wenn ihr umdreht und auf dem gleichen Weg, den wir gekommen sind, in den Palast zurückkehrt, scheidet ihr aus«, erklärte unser Begleiter, bevor er eine braunmelierte Steinkugel, kaum größer als ein Tennisball, unter seinem Mantel hervorholte. »Wer von euch diese Kugel zum Glühen bringt, hat die Prüfung bestanden und erhält das Ticket für den Ball. Ihr werdet sie finden, sobald ihr eure Aufgabe erfüllt habt.« Schneller, als meine Augen folgen konnten, ließ er die Kugel wieder verschwinden, bevor er den kargen Raum verließ.
Wir wählten die Tür mit der verschnörkelten Klinke. Falls es die falsche war, würden wir sie wiedererkennen. Ich ging alsLetzte. Meinem Gefühl nach hatten wir den richtigen Ausgang in die von Engelsmagie umgebene Stadt gefunden. Die starke Kraft über der Schwelle zwang mich fast in die Knie. Ich brauchte ein wenig, um den Schreck zu verarbeiten – außer mir schien niemand Probleme beim Übergang zur Stadt unter der Stadt zu haben.
Sommerblaues Wasser funkelte über unseren Köpfen. Vermutlich wurde es von Engelsmagie zurückgehalten. Hochaufragende Paläste durchdrangen die türkisblaue Wasserschicht. Die meisten Gebäude verloren ihre einzigartige Pracht. Nur wenige bewahrten ihre Schönheit auch in dem über der Engelstadt liegenden, von Menschen bewohnten Venedig. Bestimmt gehörten sie Engeln, die in beiden Welten lebten.
Wo in Venedig Kanäle mit ihren Booten und Gondeln die Stadt durchzogen, gab es hier wohltemperierte Straßen, Plätze oder schmale Gassen. Ähnlich verwirrend wie in der Menschenwelt darüber war die chaotische Anordnung, ebenso groß die Zahl der Lebewesen, die die Stadt der Engel bevölkerte.
»Wow!« Susan und Erika quollen die Augen über, als wir den großen Kanal erreichten. Hannes blieb cool. Lisa verbarg ihre Überraschung hinter vorgehaltener Hand, wobei ihre Augen nicht übermäßig erstaunt wirkten –
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