Tanz der Engel
sicher, dass du in die Basilika willst?«
»Völlig. Ich will wissen, mit wem ich es zu tun habe, und zeigen, dass ich mich nicht so leicht einschüchtern lasse«, behauptete ich mutig, obwohl ich weit davon entfernt war, mich so zu fühlen.
Mit den Haaren unter der Jacke und der Maske auf dem Gesicht schlich ich zur Basilika zurück. Auch dieses Mal spürte ich ein Kribbeln unter meiner Haut. Ich wagte mich bis zum Eingang der Kirche unter dem Balkon vor, auf dem fünf schwarzgekleidete Engel Wache hielten. Ich war mir ziemlich sicher, dass es Engel waren. Ob auch ein Racheengel darunter war, konnte ich jedoch nicht sagen. Alle trugen Masken und beobachteten die Sechsergruppe, der wir hinter dem Dogenpalast begegnet waren. Gut, dass ich allein unterwegs war – mich traf ausnahmsweise keiner der Blicke.
Mein Wissensdurst trieb mich weiter. Das Kribbeln unter meiner Haut wurde stärker. Sollten gleich Blitze aufzucken,wäre meine Tarnung dahin. Doch außer meinem Schattenwesen hatte ich nichts Dämonisches bei mir. Also hoffte ich und betrat die Kirche. Lichtblitze gab es keine, nur unsichtbare, die in mir tobten. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, und ging weiter. Mattes Rot, Weiß und helles Grau beherrschten den Boden. Die Kuppeln glänzten überirdisch. Mosaike in Blau, Rot und Weiß, gefasst von Unmengen von Gold. Überall glitzerte es. Die Fülle erschlug mich. Macht zu besitzen schien den Engeln genauso wichtig zu sein, wie sie zu zeigen.
Ich lief unter den goldglänzenden Kuppeln weiter in Richtung Altar. Meine Spangen zerrten an meinen Klauen, kurz bevor ich den dunklen Engel in der Nische entdeckte. Er sah aus wie ein Mensch, dennoch schien er weit davon entfernt, menschlich zu sein. Auch ohne seine Schattenseite zu kennen, spürte ich, wozu er gemacht worden war. Fühlte seine zurückgehaltene Wut, die ihn befähigte, skrupellos zu jagen und zu töten.
Mir schauderte. Am liebsten wäre ich weggerannt. Es war ein Fehler, die Kirche zu betreten, doch meine Einsicht kam zu spät. Zwei bernsteinfarbene Augen mit hellen Einschlüssen hielten mich zurück. Unter der weißen Pestmaske mit dem gigantischen Krähenschnabel schimmerten sie unheimlich im Goldlicht der Kirche.
Ich nickte ein mutiges Hallo und versuchte zu lächeln, auch wenn das unter meiner Maske verborgen blieb.
»Noch nicht mal ein richtiger Engel und schon so mutig?«, grollte eine dunkle Stimme. Es war keine Frage, sondern eine Warnung.
Da er bei beidem danebenlag – ich war ein Engel, aber feige –, missachtete ich die Drohung. Was konnte er schon tun? Sein Engelsschwert zücken und dich in tausend Stücke hacken, warnte mich meine innere Stimme. Auch sie ignorierte ich.
»Wenn ich schon mal in Venedig bin, wollte ich wenigstens die Highlights nicht verpassen«, antwortete ich.
Ich rechnete mit einem Lachen – oder wenigstens einem Grinsen –, doch Racheengel besaßen offenbar keinen Humor. Noch bevor ich reagieren konnte, steckten die Spitzen von zehn Monsterkrallen in meinen Oberarmen. Vor Schmerz keuchte ich auf – zu schreien verbot ich mir, den sadistischen Typen hätte das nur angemacht.
»Sei vorsichtig, mit dem, was du sagst, kleiner Engel. Und sieh zu, dass du von hier verschwindest, solange du nicht eingeladen bist.«
Sein Wurf schleuderte mich fünf Meter weit nach hinten. Ich fing den Sturz mit einer Verbeugung ab, zog meine Maske über den Kopf – und zwang mich zu einem höflichen Lächeln.
»Vielen Dank für die nette Begrüßung.« Ohne mich noch mal umzudrehen, verließ ich die Basilika.
Erst in einer vor Blicken geschützten Seitengasse erlaubte ich mir, den Schmerz wahrzunehmen. Meine Arme brannten, als tobe ein Feuer in ihnen. Tränen schossen mir in die Augen und trübten meine Sicht. Erst als jemand mit Pauls Stimme wissen wollte, was mit mir los sei, erkannte ich den Kerl, der vor mir stand.
Ohne nachzufragen, woher meine Verletzungen stammten, versorgte Paul meine Wunden – sicher wusste er, welche Wesen solche Spuren hinterließen. Im Gegensatz zu mir war er bestens ausgerüstet. Verborgen an der Innenseite seines Gürtels zauberte er eine winzige Tube Was-auch-immer-Paste hervor und schmierte mir die graugrüne Mischung auf die kleinen, aber tiefen Schnitte. Der Schmerz ließ augenblicklich nach.
»Danke«, flüsterte ich. »Das ist heute schon das zweite Mal, dass du mir hilfst.«
»Und vermutlich nicht das letzte Mal«, antwortete Paul und schenkte mir sein Lynn-Grinsen.Zielsicher
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