Tanz der Engel
mit einem kräftigen Gemüseeintopf. Nachdem wir uns geeinigt hatten, dass Emilia und ich oben auf der Galerie schliefen und Antonio mit Stefano unten auf der Couch, machten wir uns an den Aufbau der Drachen.
Stefano erklärte Emilia und mir, was wir beachten mussten, während Marcello ihn aufmerksam überwachte. Seiner Miene nach zu urteilen, schien er mit Stefano zufrieden zu sein, der sich bei ihm demnächst als Fluglehrer ein wenig dazuverdienen wollte. Ein eigener SUV, mit dem er in die Berge fahren konnte, stand ganz oben auf Stefanos Wunschliste.
Ausgerüstet mit Helm und Headset schleppte ich den schweren Deltadrachen zur Übungswiese. Hinter mir mühte sich Emilia mit ihrem bunten Fluggerät ab. Die Jungs sahen zu. Wer Drachenfliegen wollte, sollte ihrer Meinung nach allein damit zurechtkommen.
»Und denkt daran: Ihr müsst den Drachen in den richtigen Winkel bringen! Wenn er zu steil ist, kann die Strömung abreißen oder ihr werdet zu langsam, um abzuheben. Und wenn er zu flach ist, werdet ihr ewig laufen«, erklärte Stefano noch einmal.
Ich warf Antonio einen scharfen Blick zu. Auch ohne sein Gegrinse erinnerte ich mich an die erfolglosen Bergabsprints, bei denen mein Drachen einfach nicht abheben wollte.
»Und vergesst das Wichtigste nicht: den Flug zu genießen«, schloss Stefano seine Ausführungen.
Noch ehe ich den Startplatz erreichte, begann es in meinem Bauch zu kribbeln: eine Mischung aus Vorfreude und Angst. Ich schob die Angst beiseite. Schließlich war es nicht mein erster Flug. Außerdem konnte auf der Übungswiese so gut wie nichts passieren.
Bevor ich loslief, hielt ich noch einmal inne, um mich zu konzentrieren: auf meinen Drachen und die Gerüche, die mich umgaben. Es roch nach Bergwiese, Gräsern und Moos – und ein wenig nach Feuchtigkeit. Ich hielt die Nase in den Wind. Nach fünf Wochen ohne Regen schien mir der letzte Geruch ziemlich unpassend. Doch den erhofften Duft von Sommergewitter konnte ich nicht wahrnehmen – noch nicht.
Die ersten Schritte fielen mir schwer. Das Gewicht des Drachens lastete auf mir. Die Anfeuerungsrufe meiner Freunde und Stefanos Anleitung über das Headset halfen mir, mein Gleichgewicht zu finden. Die Erinnerung an meinen letzten Flug mit Christopher kehrte zurück, und plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte.
Ich verlor den Boden unter den Füßen. Mein Herz bebte. Ich flog! Es fühlte sich beängstigend und berauschend zugleich an, auch wenn ich nur ein paar Meter über der Wiese schwebte.
Stefanos Stimme holte mich aus meiner Euphorie. Er befahl mir zu landen – was nicht gerade meine Stärke war. Konzentriert befolgte ich seine Anweisungen, lenkte den Deltadrachenin einem U-förmigen Bogen, drückte den Steuerbügel am Trapez nach vorne und setzte die Landerollen sanft auf dem grünen Hügel auf.
»Gut gemacht, Lynn!«, lobte mich Stefano übers Headset.
Emilias und Antonios Applaus hallte bis zu mir herunter. Und auch ich stieß einen Jubelschrei aus. Ich hatte es geschafft, ohne Bruchlandung heil unten anzukommen. Doch dann fiel mir wieder ein, warum ich überhaupt geflogen war, und das Glücksgefühl verblasste. Kein Sturm, kein Gewitter und auch sonst kein Anzeichen von einem Engel.
Am Abend fielen Emilia und ich todmüde ins Bett. Stefano hatte uns vier Mal den Hügel hoch und runter geschickt. Er wollte sicher sein, dass wir am nächsten Tag keinen Fehler machten. Seine Sorgfältigkeit beruhigte mich. Irgendwann absolvierte jeder Drachenflieger seinen ersten Höhenflug. Auch wenn ich mir vor nicht allzu langer Zeit sicher war, dass ich das niemals machen würde. Doch das hatte sich geändert – wie so vieles in den letzten Monaten.
Ich schlief unruhig, aber traumlos, was mich irgendwie enttäuschte. Mit einem geflüsterten Tu’s nicht oder einem Absturzalbtraum hatte ich eigentlich schon gerechnet. Anscheinend lag ich mit meinen Einschätzungen, was Engel betraf, ziemlich daneben. Hoffentlich änderte sich das noch.
Meine Anspannung wuchs, als ich am Morgen Emilia unten bei Stefano entdeckte. Auch ihr stand die Aufregung ins Gesicht geschrieben. Im Gegensatz zu mir beruhigte sie sich jedoch, als Stefano sie in die Arme zog, ihr sanft über die Haare streichelte und ihr offenbar beruhigende Worte ins Ohr flüsterte.
Ich verließ die Hütte und kühlte mein Gesicht im frischen Morgenwind. Jetzt war ich schon auf Emilia und Stefano eifersüchtig. Wenn ich so weitermachte, hatte ich bald gar keine Freunde mehr.
Stefano
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