Tanz der Engel
verschob unseren Flug. »Mein Vater hat eben angerufen.Er will vorbeikommen und eine kleine Überraschung mitbringen.«
Mein Herz, das, seitdem wir die Drachen vorbereiteten, sowieso schon schneller klopfte als sonst, begann Purzelbäume zu schlagen. Christopher. Er war unterwegs, um mir mein Vorhaben auszureden. Eine steile Falte würde auf seiner Stirn erscheinen, während er mir einen Vortrag hielt und mir anschließend das Versprechen abnahm, keine weiteren Dummheiten auszuhecken. Am Ende würde er mich fest in die Arme schließen und mich mit einem Kuss an sich fesseln.
»Sag bloß, Chris hat sich doch noch entschieden zu kommen?«, fragte Emilia.
»Du erwartest jetzt aber nicht von mir, dass ich verrate, wen mein Vater mitbringt«, antwortete Stefano. »Dann wär’s ja keine Überraschung mehr.«
Ich schluckte meine Drohung hinunter, seinen geliebten, bunten Drachen aufzuschlitzen. Ich war viel zu erleichtert, dass Christopher kam. Spätestens in einer Stunde war er hier, mein Flug gestrichen und meine Angst verschwunden.
Seitdem ich mir noch mal angeschaut hatte, wie steil der Berg abfiel, wusste ich wieder, warum ich eigentlich nicht mehr Drachenfliegen wollte. Ich sollte bloß von Schnüren und hauchdünnem Stoff gehalten über eine Bergkante springen, die – abgesehen von ein paar Felsnasen – mehrere hundert Meter senkrecht in die Tiefe stürzte?! Nur Wahnsinnige konnten so etwas tun. Und vielleicht Marcello, Stefano und Emilia.
Als der olivgraue Jeep von Stefanos Vater den ausgefahrenen Schotterweg neben der Bergwiese emporrumpelte, geriet mein Herz vollends aus dem Takt. Obwohl ich nur schattenhafte Gestalten in dem Wagen erkenne konnte, war ich mir sicher, dass Christopher auf dem Beifahrersitz saß. Wer sonst würde gerade noch zum richtigen Zeitpunkt auftauchen, um mich zurückzuhalten?
Alles Blut sackte mir in die Beine, als sich die Wagentür öffnete. Im Gegensatz zu mir stürzte sich Emilia auf die beiden Insassen, die aus dem Jeep kletterten, und umarmte sie, als wäre es das letzte Mal. Mir kam nur ein klägliches »Hallo« über die Lippen. Ich fühlte mich wie gelähmt, hatte ich doch mit Christopher und nicht mit Lucia und Philippe gerechnet. Wenn ich jetzt kniff, nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, würde ich nicht nur vor meinen Freunden als Feigling dastehen – was ich vielleicht noch verkraften konnte. Auch mein Schutzengel würde das so sehen – und Christopher. Und genau davor fürchtete ich mich: dass ich zu schwach war, um an der Seite eines Racheengels zu bestehen.
Es half mir, nicht die Einzige zu sein, die ihren ersten Höhenflug vor sich hatte. Stefano instruierte uns noch mal, bevor es losging. Dieses Mal übernahm er es, Emilias schweren Deltadrachen nach oben zu tragen. Marcello nahm meinen. Alle vier – Stefanos Vater war nach unten zum Landeplatz gefahren – beobachteten wir, wie Stefano, unter Marcellos Aufsicht, mit Emilia die letzten Absprachen traf. Dann setzte er ihr den Helm auf, prüfte das Headset und gab ihr einen langen Kuss.
Mein Magen begann zu rotieren. Emilia strahlte. Die Freude auf den bevorstehenden Flug war ihr anzusehen. Ich dagegen empfand nur Angst und Eifersucht. Eine ungute Mixtur.
Sie löste sich auch nicht auf, als Emilias Drachen über die Felskante schoss. Ihr euphorisches Lachen, als sie das unbändige Gefühl von Freiheit verspürte, erinnerte mich an Markus, einen Engelschüler. Auch er hatte gejubelt, als der Wind zum ersten Mal unter seinen Flügeln hindurchstrich. Und an mein Versagen. Entschlossen drückte ich meinen Rücken durch, als Panik in mir aufsteigen wollte. Ich konnte nichts dafür, dass ich damals abstürzte – schließlich war ich ja gar kein Engel.
Stefanos sanfte Stimme, mit der er Emilia über das Walkie-Talkie anleitete, hüllte mich ein. Sie strahlte eine Zuversichtaus, die ich kaum ertragen konnte. Stefano hätte niemals zugelassen, dass Emilia etwas zustieß. Die Fürsorge, mit der er alles vorbereitet hatte, diente nur einem Zweck: Er wollte die Freude, die er selbst beim Drachenfliegen empfand, mit ihr teilen – weil er sie liebte. Auch Christopher hatte mir vor ein paar Wochen dieses Gefühl geschenkt. Und jetzt? Wo war es? Wo war er?!
Ich sog die Luft tief durch die Nase, filterte den Geruch nach Gestrüpp, Moos und Felsen heraus, in der Hoffnung, dass etwas übrigblieb. Doch da war nichts.
Stefano seufzte erleichtert, als Emilia sicher landete. Erst jetzt ließ er erkennen, wie sehr
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