Tanz der Engel
schon einen passenden Drachen für mich ausgesucht. Es wird mein erster Höhenflug«, erklärte Emilia aufgeregt – und meiner , ergänzte ich im Stillen.
Dass auch ich meinen ersten Höhenflug wagen wollte, überraschte und freute Stefano. Allerdings führte er meinen Sinneswandel nicht auf seine eigene Begeisterung fürs Fliegen zurück, sondern auf Emilias Einfluss.
Emilia und ich hatten im letzten Sommer, als Stefano neben seiner Lehre zum Landschaftsgärtner seine Fluglehrerausbildung begonnen hatte, zusammen einen Grundkurs absolviert. Da Stefano uns so oft vom Fliegen vorgeschwärmt hatte – inzwischen konnte ich seine Begeisterung sogar nachvollziehen –, wünschten wir uns beide einen Kurs zum Geburtstag. Während Emilia vom Drachenfliegen begeistert war, wusste ich schnell, warum das nichts für mich war: Ich traute der filigranen Metallkonstruktion mit dem dünnen Stoff und den paar Schnüren nicht, die mein Gewicht halten sollten. Und noch weniger vertraute ich meinem Talent, den Drachen, wenn es darauf ankam, in die richtige Position zu bringen, was bei einem Start über eine Felsklippe ziemlich wichtig war. Ganz abgesehen davon, gab es dann auch noch das Landen. Bei meinen Trainingsflügen auf der Übungswiese hatte ich nie eine perfekte Landung hinbekommen. Fliegen war eben nichts für mich – zumindest nicht ohne Christopher.
Stefanos Vater fuhr uns mit dem Geländewagen in die Berge und setzte uns auf einer kleinen Almwiese mit plätscherndem Bergbach ab. Unser Gepäck wollte er mit hoch zur Berghütte nehmen, wo Marcello, ein Freund von ihm, Flugkurse und Klettertouren anbot.
Stefano wählte eine einfache Wanderroute, damit Emilia und ich noch genügend Kraft besaßen, um einen Übungsflug auf der Anfängerwiese zu absolvieren.
»Spar dir deine Kräfte für später, Lynn. Sonst kriegst du den Drachen niemals hoch«, erinnerte mich Antonio an meine Fehlversuche im letzten Jahr, als ich mit zügigen Schritten an ihm vorbeilief, um zu Stefano aufzuschließen. »Ich helf dir nicht wieder beim Hochschleppen.« Wie Philippe hielt er nur wenig vom Drachenfliegen und amüsierte sich lieber beim Zusehen.
»Das hast du nur ein einziges Mal gemacht. Außerdem holt uns Marcello unten mit dem Jeep ab.«
»Falls du das mit dem Übungsflug auf Anhieb schaffst«, ergänzte Stefano, während seine grünblauen Augen mich musterten.
»Das werde ich«, antwortete ich selbstbewusst. Ich war hochmotiviert, schließlich wollte ich gleich zwei Engel herausfordern: Christopher und meinen Schutzengel. Was war dazu besser geeignet als ein Drachenflug ohne Headset?!
Als wir das grüne, sanft abfallende Hochplateau erreichten, auf dem die aus grobbehauenen Steinen gebaute Berghütte stand, und der laue Wind meine langen Haare durcheinanderwirbelte, fühlte ich mich so stark wie schon lange nicht mehr. Auch wenn es eine Weile gedauert hatte: Ich war jetzt diejenige, die eine Entscheidung herbeiführen würde. Wenn Christopher sein Verspechen, mich zu beschützen, ernst nahm, musste er auftauchen. Die Phase, in der er versuchte, mich durch Nichtbeachtung loszuwerden, hatten wir ja wohl hinter uns, und über mein Vorhaben, ohne Fluglehreranweisung den ersten Höhenflug zu wagen, hatte ich oft und intensiv genug nachgedacht. Mein Schutzengel wusste also Bescheid. Nur eine Unsicherheit blieb: Was, wenn Christopher nicht mitspielte? Wenn er doch nicht erschien?
Meine Zweifel und das zermürbende Warten auf Christopher lähmten mich. Die Kraft, die mich gerade noch durchströmt hatte, drohte, mich zu verlassen. Ich klammerte mich an sie. Ichbrauchte sie, um den Mut zu finden, demnächst über eine Felskante zu springen.
»Wer zuerst das Haus erreicht, darf den ersten Übungsflug machen.« Emilias Aufforderung riss mich aus meinen Gedanken. Ich gewann mit einem knappen Vorsprung – sehr zum Erstaunen von Stefano.
»Nachdem du letzten Sommer beschlossen hast, nie wieder zu fliegen, scheinst du es jetzt kaum erwarten zu können, den Wind im Drachen zu spüren.«
»Vielleicht war ich damals einfach nicht reif genug.«
»Und weil du bald siebzehn wirst, glaubst du, dass sich das geändert hat?«, fragte Stefano.
»Wohl eher, weil sie ’nen älteren Freund hat«, antwortete Antonio an meiner Stelle.
Ich schwieg. Vielleicht stimmte das. Auf alle Fälle hatte mein Freund etwas damit zu tun.
Marcello, ein kleiner, drahtiger Mittvierziger mit schwarzgrauem Kräuselhaar, das auch in seinem Gesicht wucherte, erwartete uns
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