Tanz der Engel
Dass er sie in seiner Engelsgestalt küsste, trieb mich über die Kante. Wutentbrannt stürmte ich in mein Zimmer, riss ein paar Shorts und das erstbeste T-Shirt aus dem Schrank, schnürte meine Turnschuhe und lief los. Mein stilles Bitten war bislang erfolglos geblieben, meine Geduld am Ende. Aber ich wusste, wo der nächste Engelstützpunkt lag: in den Bergen; in der Einsiedelei, die hoch über Sulmona thronte – und ich besaß noch immer das Armband mit dem Medaillon, das mich schon einmal ins Schloss der Engel gebracht hatte.
Aufgrund der Hitze und der vergessenen Wasserflasche kam ich völlig ausgepowert oben an. Auf dem steinigen Weg hatte ich Christopher nicht nur einmal verflucht. Schließlich war ich nur noch sauer auf mich selbst: weil ich Christopher nicht einfach aus meinem Gedächtnis streichen und mir einen ganz normalen Freund suchen konnte. Seit er in meiner Welt aufgetauchtwar, schienen bei mir die Sicherungen durchzuglühen. Würde ich sonst bei sechsunddreißig Grad im Schatten einen Berg hochklettern, ohne die Aussicht zu genießen, und stattdessen mit zitternden Fingern an eine verschlossene Tür klopfen, in der Hoffnung, einen Engel zu finden? Wohl kaum!
Wenigstens hatte ich das Glück, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Der junge Mann, den ich von meinen beiden letzten Besuchen in der Einsiedelei kannte, öffnete. Allerdings ließ er mich trotz Engelsarmband nicht zu Wort kommen, knallte mir die Standardantwort – »Wir empfangen heute keine Besucher!« – an den Kopf und verriegelte danach wieder die Tür.
Sein abweisendes Verhalten besserte meine Laune nicht gerade. Um einiges energischer klopfte ich noch einmal an das verschlossene Tor. Schließlich hämmerte ich mit meinen Fäusten auf das unschuldige Türblatt und bespuckte es mit den wildesten Flüchen.
Als die letzten Sonnenstrahlen den Himmel bunt färbten, kauerte ich wie ein Häuflein Elend vor der blöden Engelspforte. Ich würde hier sitzen bleiben. Irgendwann musste ja mal jemand rauskommen.
Er kam, der Typ, der mich abgewiesen hatte, und brachte mir Wasser und Brot. Mehr hatten die Engel wohl nicht mehr für mich übrig.
Frustriert schleppte ich mich den halben Berg hinunter, bis ich in der Dunkelheit nichts mehr sehen konnte. Mit tausend Drohungen auf den Lippen, was ich mit dem nächsten Lebewesen anstellen würde, das mich abwies, rollte ich mich in einer Felsnische zusammen und schlief ein.
Meine Mutter war wach geblieben. Ihre ganze Sorge entlud sich in der Umarmung, mit der sie mich an sich drückte, als ich eine Stunde nach Sonnenaufgang mein Zuhause erreichte. Sie war froh, mich wiederzuhaben, und glaubte mir die Geschichte, dassich mich in den Bergen verlaufen hatte – abgekämpft genug sah ich wohl aus.
Mein Vater päppelte mich mit frisch gepresstem Orangensaft und Pfannkuchen auf, während meine Mutter mich umgluckte wie in meinen frühesten Kindheitstagen. Wie selten zuvor genoss ich die Gewissheit, wenigstens von meinen Eltern geliebt zu werden. Vermutlich waren auch sie es, die Emilia anriefen.
Wir verbrachten ein tolles Mädelswochenende, gingen shoppen in Sulmona, abends – ohne Stefano oder Antonio – in die Disco und schliefen am nächsten Tag bis zum Mittag. Im Garten unterm Sonnenschirm mit Eistee und Amarettinikeksen schnitt sie schließlich das bis dahin totgeschwiegene Christopher-Thema an.
»Lynn, du hast nicht mal mehr zwei Wochen Ferien, und Stefano würde gern unsere Sommertour zur Drachenflugstation machen. Philippe ist schon weg, und wenn du jetzt auch noch ausfällst, weil du lieber rumsitzt und wartest, können wir das Ganze gleich abblasen. Kannst du Chris nicht anrufen und ihm sagen, dass er sich entweder heute noch oder gar nicht mehr blicken lassen soll?«
Emilias Vorschlag entsprach in etwa meinen eigenen Plänen. Während ich an meinem Eistee nippte, überlegte ich – sicher zum hundertsten Mal –, wie ich Christopher erreichen konnte. An dem einen Ort hatte man mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, der zweite lag mehr als tausend Kilometer weit entfernt. Die einzige Möglichkeit, die mir einfiel, schien der Umweg über meinen Schutzengel. Wer auch immer den Job übernommen hatte, würde Christopher informieren, sobald ihm klar wurde, was ich vorhatte.
»Ich komme auch ohne Chris mit. Allerdings hab ich Philippe versprochen, meine letzte Ferienwoche bei ihm zu verbringen. Wir müssten also spätestens am Mittwoch los.«
»Wenn’s nach Stefano geht, gleich morgen. Er hat
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