Tanz der Engel
zwingen, mich ins Verlies zu begleiten, wäre mir schwergefallen – bei Markus empfand ich weniger Skrupel. Er fürchtete sich sowieso vor mir wie ein aufgeschrecktes Kaninchen vor den Krallen des Raubvogels – noch mehr Angst konnte ich ihm wohl kaum einjagen.
Markus hatte sogar die Vorarbeit für mich geleistet und die Schachtel mit dem Maniküreset gefunden. Mit zwei schnellen Schritten war ich bei ihm. Er rührte sich nicht, starrte mich mit schreckgeweiteten Augen an und wartete auf den Todesstoß. Ich erfüllte seine Erwartungen und zückte den gekrümmten Haken, der wesentlich furchteinflößender aussah als das Skalpell.
Markus schloss die Augen. Lautlos bewegte er seine Lippen wie zu einem letzten Gebet. Er würde mich nach dieser Aktion für ein Monster halten, Susan und Erika mir das Leben zur Hölle machen. Kurz überkamen mich Zweifel. Doch selbst wenn mein Plan, Christopher zurückzuholen, missglückte, war der Versuch es wert, ihren Hass zu ertragen.
Ich ließ den Haken vorsichtig über Markus’ Kehle gleiten. Das Metall war kalt und jagte ihm Schauer über die Haut. Seine sich aufrichtenden Härchen hätten jedem aufgeplusterten Vogel Konkurrenz gemacht.
»Lauf und tu, was ich dir sage, wenn dir etwas an deinem Herzen liegt.« Langsam zog ich den Haken über Markus’ Brust und verharrte über seinem wild pochenden Herzen.
Er folgte mir wie ein abgerichtetes Hündchen. Zitternd ließ er sich durch den Tunnel schieben. Er zeigte keine Spur von Widerstand. Selbst als ich ihm die Augen verband, damit er Christopher nicht in seiner Schattengestalt sehen konnte, wehrte er sich nicht. Erst als ich ihm befahl, sich zum Engel zu verwandeln, weigerte er sich. Der Haken, der sein T-Shirt aufschlitzte und eine rote Spur auf seiner Brust hinterließ, überzeugte ihn dann doch.
Problemlos passierte ich den ersten Schutzwall. Ein düsteres Knurren ließ uns beide zusammenschrecken. Ich fasste mich schneller als Markus, dem selbst die Flügel zitterten.
Ein kleiner Stoß genügte, um ihn zu Fall zu bringen und mir die Zeit zu verschaffen, den Strick, mit dem Christopher mich gefesselt hatte an der Tür zu befestigen. Markus wieder auf die Beine zu bringen, war schwieriger.
Das Knurren am Ende des düsteren Raumes schwoll zu einem wütenden Fauchen an, das selbst mir unter die Haut ging. Trotzdem schaffte ich es, Markus zu der Barriere zu schleifen, ohne mich ein weiteres Mal einschüchtern zu lassen. Noch während ich hindurchschlüpfte, riss ich Markus die Augenbinde vom Kopf und schubste ihn auf die Kerze zu, die ich am Ausgang hatte stehen lassen.
Markus drehte sich nicht um und fiel geradezu durch die Tür, die ich mit Hilfe des Stricks hinter ihm zuzog.
Dunkelheit hüllte mich ein. Plötzlich war es totenstill. Ich wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Sicherheitshalberwartete ich mit dem Anzünden der zweiten Kerze, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte. Obwohl oder vielleicht gerade weil ich wusste, was mich erwartete, hatte ich ebenso große Angst wie Markus. Auch meine Beine zitterten, und mein Herz schlug bis zum Hals. Jetzt, da Markus weg war, brauchte ich nicht mehr die Taffe zu spielen. Christopher kannte meine Schwächen – vielleicht sogar besser als ich selbst.
Schließlich nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und kramte die Kerze hervor. Aron würde sicher bald eintreffen. Bis dahin musste es mir gelingen, Zugang zu Christophers Engelswesen zu finden.
Das Streichholz flackerte auf, und ich zündete die Kerze an. Fahle, schalgraue Augen, durchzogen von unzähligen roten Linien, starrten mir aus der Dunkelheit entgegen. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, die Barriere zu durchbrechen, so wäre ich auf der Stelle geflohen. Nichts war mehr übrig von Christopher. Selbst seine Augen hatte die Bestie ihm genommen.
Erschrocken wich ich zurück, als der dunkle, zu einer faltigen Linie zusammengeschrumpelte Mund, der einst aus weichen, verführerisch küssenden Lippen bestand, sich öffnete. Eine Reihe blutgeäderter Zähne blitzte mir entgegen. Ich sah beiseite, weil ich den Anblick nicht ertragen konnte – doch vor dem markerschütternden Schrei gab es kein Entkommen.
Seine Bosheit brachte all meine Gefühle für Christopher ins Wanken. Das Monster war bereit, zu töten. Es verschonte niemanden – auch nicht mich. Doch wenn ich Christopher zurückholen wollte, musste ich sowohl seine Seele als auch diese furchteinflößende Kreatur berühren. Aber wie sollte
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