Tanz der Engel
haltlos zu schluchzen – weinen konnte ich noch immer nicht, obwohl meine Augen brannten wie Feuer.
Aron legte seinen Arm um meine Schultern und tröstete mich ein weiteres Mal.
Er ließ mich keine Minute allein. Selbst die Nacht verbrachte er in meinem Zimmer – auf seinem Lieblingssessel –, während ich mich in meinem Fast-Himmelbett ruhelos hin und her wälzte. Anscheinend befürchtete er, ich könnte etwas Dummes aushecken. Doch erst Arons Übervorsichtigkeit brachte mich auf die Idee, wie ich Christopher helfen konnte.
Zwei Tage lang spielte ich die Musterschülerin, wie ich es Aron versprochen hatte. Ich murrte weder, als er mich am Morgen um den See hetzte oder mir mein Krafttraining erschwerte, noch, als er mir in der Zeit dazwischen alte, vergilbte Schriftrollen zum Lesen gab, deren Zeichen ich nur entziffern konnte, da ich einen Kalligraphiekurs besucht hatte. Detailliert wurden darin die Grausamkeiten beschrieben, zu denen Geistdämonen – und angeblich auch Schattenengel – fähig waren. Dass ich mich bei jeder Gräueltat mieser fühlte, kümmerte ihn offenbar nicht. Vielleicht lag es aber auch in Arons Absicht, mir vor Augen zu führen, was für eine widerliche Kreatur ich doch war.
Ich hielt still und ließ mir meine zunehmende Verzweiflung nicht anmerken. Auch Christopher war zu solchen Taten fähig – hatte sie vielleicht schon begangen. Doch jetzt saß er in dem kalten Verlies, und niemand half ihm, sich von diesem dunklen Teil zu befreien.
Wie erhofft lockerte Aron seine drakonische Überwachung. Er vertraute mir. Meine Ergebenheit überzeugte ihn – wie schlecht er mich doch kannte. Christopher wäre niemals darauf hereingefallen.
Vielleicht hatte er auch nur Mitleid mit mir. Die Reaktionender Engelschüler waren heftig. Ihre Unsicherheit hatte sich offenbar in Feindschaft verwandelt. Allen voran Susan, Markus und Erika. Es war Markus gewesen, der beobachtet hatte, wie ich beim Training mit Ekin ausgeflippt war. Seitdem stand blanke Furcht in seinen Augen, sobald er mich sah. Sein blasses Gesicht färbte sich grünlich, während alles in ihm zur Flucht drängte. Nur der Beistand von Erika, seiner Freundin, hielt ihn zurück. Am heftigsten jedoch schmerzte das Verhalten der sonst so liebenswürdigen Susan – aus ihrem Gesicht sprach eine Mischung aus Abscheu und Hass.
Niemals zuvor fühlte ich mich so gedemütigt.
Aron stärkte mir den Rücken, doch auch ihm entging die wachsende Ablehnung der Engelschüler nicht. Einzig Paul bereitete meine Schattenseite keine Probleme.
Um mir und vor allem den anderen zu zeigen, wie sehr er mir vertraute, schickte Aron mich nach dem Lanzetraining – bei dem er mich abseits der Gruppe mit Einzeltraining gefordert hatte – an Pauls Seite ins Schloss zurück.
Ich nutzte die Gelegenheit. Ich brauchte einen Engel, um in Christophers Verlies vorzudringen. Christopher war schon viel zu lange dort unten gefangen. Mich in Geduld zu üben, wie Aron es von mir erwartete, fiel mir unsagbar schwer. Ich ließ mir nicht anmerken, wie sehr ich darunter litt – es erschien mir die gerechte Strafe dafür, Christophers Verwandlung zugestimmt zu haben.
»Paul, ich muss noch was aus Christophers Zimmer holen«, begann ich meinen Plan in die Tat umzusetzen.
Paul, der trotz Arons Vertrauen genaue Anweisungen hatte, mich in meine Kammer zu bringen – und sicherlich auch, sie hinter mir abzuschließen –, zögerte.
»Du kannst mitkommen. Es dauert nicht lange. Aber wenn ich das Buch nicht bis morgen Abend gelesen habe, wird Aron sauer sein.«
Meine Überzeugungskraft wirkte. Anstatt die Treppe zu nehmen, durchquerten wir die pompös ausgestattete Eingangshalle in Richtung Christophers Zimmer. Als Paul die Tür öffnete, atmete ich erleichtert auf. Sie war nicht verschlossen. Um ins Verlies zu kommen, stand mir nichts mehr im Weg. Wo sich der verborgene Zugang befand, wusste ich. Mit einem hatte ich allerdings nicht gerechnet: Markus hier anzutreffen.
Ich reagierte sofort. Dass Markus erschrocken das Skalpell fallen ließ, das er aus dem Kästchen mit dem Klauenmaniküreset genommen hatte, sprach Bände. Offenbar wollte er sehen, womit so etwas wie ich gefoltert wurde.
»Hol Aron, ich halte ihn solange auf!«, rief ich und schubste Paul durch die Tür zurück in den Flur.
Paul, der mich als harmlos einstufte, nickte und verschwand, während ich mich vor der Tür postierte, damit Markus nicht entkommen konnte. Er war eindeutig die bessere Wahl. Paul zu
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