Tanz der Engel
schrie Aron. »Ab sofort werde ich mich nach dem Kodex richten und mich nicht länger von deiner mädchenhaften Art blenden lassen. Du bist nicht der unschuldige Engel , der vor ein paar Monaten hier auftauchte und Schwierigkeiten hatte, sich zurechtzufinden.«
Aron begann vor mir auf und ab zu gehen, um seine Wut in den Griff zu bekommen. »Ich war viel zu gutmütig mit dir. Ich habe dich getröstet, anstatt dir in den Hintern zu treten. Ab jetzt werde ich dich so erziehen, wie es vorgeschrieben ist – egal wie traurig du mich mit deinen großen, dunkelbraunen Rehaugen ansiehst.«
Ich verschloss meine so vielgepriesenen Augen. In diesem Moment fühlte ich nichts als Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Aron sollte mir nicht auch noch vorwerfen, dassmeine Gefühle nur vorgetäuscht waren. Ich hörte, wie er sich von mir entfernte und in meinem Schrank herumkramte.
»Hier, zieh das an!«, befahl er mir und warf mir Sportklamotten und Turnschuhe vor die Füße. »In einer Minute fangen wir an.«
Und so begann meine tägliche Tortur. Warum ich während Arons überdimensioniertem Training nicht zusammenbrach, wusste ich nicht. Vielleicht, weil ich kein Mensch mehr war. Heftig war es dennoch, aber ihn um Gnade zu bitten, erschien mir falsch. Bei Christopher hatte ich ebenso versagt wie bei den Engelschülern. Und die Vorstellung, Aron noch mehr gegen mich aufzubringen, als ich es ohnehin schon getan hatte, nur um für mich selbst zu sprechen, widerte mich an. Schon bei dem Gedanken, ihn zu bitten, sein Tempo zu drosseln, wurde mir regelmäßig schlecht.
Wie nach jedem Lauf mit Aron, der mich zum Schluss stets die Treppe zu meinem Zimmer hochhetzte, klappte ich auch dieses Mal zusammen, als ich die Badezimmertür hinter mir verriegelt hatte. Keuchend saß ich auf dem Boden und japste nach Luft. Und wie immer ließ Aron mich nicht zur Ruhe kommen. Zwei Minuten später klopfte er gegen die Tür und drohte, sie einzutreten, falls ich nicht pünktlich zum Training mit Ekin fertig sein sollte.
Selbst Ekin schien Mitleid mit mir zu haben und beendete das Spring-über-den-Stock-sonst-schlägt-er-dich-Spiel früher als sonst.
»Deine Beine sind jetzt kräftig genug, so dass wir mit dem richtigen Üben beginnen können«, erklärte er nach einer kurzen Aufwärmphase. Offenbar hatte ich mich zu früh gefreut. Dass er die bisherigen Stunden nicht als richtiges Üben bezeichnete, verhieß nichts Gutes.
Meine Befürchtungen erfüllten sich: Ekin schwenkte von Spring- zu Nahkampftraining. Er erklärte mir zwar, wo und wieer seine Griffe ansetzte, doch erst nachdem er mir mehrfach demonstriert hatte, wie hart Grasboden sein konnte. Anschließend triezte er mich so lange, bis ich seine Anweisungen haargenau befolgt und seinen durchtrainierten Körper wenigstens einmal aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Immerhin spornte mich sein herablassendes Grinsen mehr an, als es mich demütigte. Ekin war kein schlechter Kerl. Das hatte er mit dem Herausrücken des Fußfesselkontrollers bewiesen. Nur seine Anforderungen an mich waren einfach zu hoch.
Nach dem morgendlichen Fünf-Stunden-Training durfte ich mich eine halbe Stunde in meinem Zimmer erholen – in der ich duschte, zu Mittag aß und mein Flüssigkeitsdefizit ausglich –, bevor Aron mich zur nächsten Quäleinheit schleppte: ab heute wieder Unterricht mit den Engelschülern. Davor hatte ich richtig Angst!
Arons Wahl fiel auf Kassandra Klars Gedankenwelt. Meine Erinnerung an dieses Fach war genauso schrecklich wie die an ihr Mentaltraining – wenn nicht sogar schlimmer. Auch Gedankenwelt wurde in dem großflächig verglasten, nach Tannennadeln duftenden Kursraum mit dem grandiosen Ausblick über den See unterrichtet.
Ich kam nicht dazu, den goldbraunen Blättern zuzusehen, wie sie langsam durch die Luft segelten, um sanft auf der spiegelnden Wasseroberfläche zu landen. Die giftigen Blicke meiner Mitschüler versetzten mich in Alarmbereitschaft. Ohne Aron wären sie sicher über mich hergefallen. Ob er einer Horde aufgebrachter Engel wohl standhalten würde?
Aron erlaubte mir nicht, mich in eine Ecke zu verdrücken. Er breitete eine Matte für mich aus und legte drei weitere daneben. Eine für sich und die anderen für diejenigen, die das Pech hatten, mit mir üben zu müssen. Arons Wahl fiel auf Susan. Er schenkte ihr ein warmherziges – für das, was er vorhatte, vielleicht ein wenig zu liebevolles – Lächeln und trennte sie dannvon den Engeln, die
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