Tanz der seligen Geister (German Edition)
holen, deshalb laufe ich in einer Hoserum. Wir fahren erst mal bei mir vorbei, und ich ziehe mir was anderes an.«
»Wo gehen wir hin«, fragte sie, »damit ich weiß, was ich anziehen soll?«
Ich fragte: »Wo willst du denn hin?«
»Hört mal zu«, sagte George. »Zuerst das Wichtigste. Wir müssen uns eine Flasche besorgen, dann sehen wir weiter. Wisst ihr, wo wir eine kriegen?« Adelaide und Lois antworteten beide mit ja, dann sagte Lois zu mir: »Du kannst mit ins Haus kommen und warten, während ich mich umziehe, wenn du willst.« Ich schaute in den Rückspiegel und meinte, eine Vereinbarung zwischen ihr und Adelaide zu erkennen.
Auf der Veranda von Lois’ Haus stand ein altes Sofa, und über dem Geländer hingen Teppiche. Sie ging mir durch den Garten voraus. Ihre langen, hellen Haare waren im Nacken zusammengebunden, ihre Haut war sommersprossig, aber nicht braun, sogar ihre Augen hatten eine helle Farbe. Sie war kühl und schmal und blass. Um ihren Mund lag Spott, aber auch große Ernsthaftigkeit. Meiner Meinung nach war sie so alt wie ich oder ein bisschen älter.
Sie machte die Haustür auf und sagte mit lauter, förmlicher Stimme: »Ich möchte dich gerne mit meiner Familie bekannt machen.«
In dem kleinen Wohnzimmer lag Linoleum auf dem Fußboden, und an den Fenstern hingen geblümte Papiergardinen. Ich sah ein glänzendes Polstersofa mit einem Niagarafälle- und einem Für-Mutter-Kissen, einem kleinen schwarzen Ofen mit einem Schirm davor für den Sommer und eine große Vase mit blühenden Apfelzweigen aus Papier. Eine große, zarte Frau kam ins Zimmer und trocknete sich die Hände mit einem Geschirrtuch ab, das sie auf einen Stuhl warf. Ihr Mund war voller blauweißer Porzellanzähne, die langen Sehnen in ihrem Hals zitterten. Ich begrüßte sie, verlegen durch Lois’ plötzlich so förmliche Ankündigung. Ich überlegte, ob sie sich irgendwelche falschen Vorstellungen von diesem Rendezvous machte, das George zu so deutlich erkennbaren Zwecken eingefädelt hatte. Ich glaubte es nicht. In ihrem Gesicht vermochte ich keine Unschuld zu entdecken; es wirkte kundig, ruhig und feindselig. Vielleicht hatte sie es also getan, um mich zu verspotten, um mich zu der Karikatur »Das Rendezvous« zu machen, zu dem Jungen, der in der Diele grinsend von einem Bein aufs andere tritt und darauf wartet, der Familie des anständigen Mädchens vorgestellt zu werden. Aber das war ein bisschen weit hergeholt. Warum sollte sie mich in Verlegenheit bringen wollen, wenn sie eingewilligt hatte, mit mir auszugehen, ohne mir überhaupt ins Gesicht zu sehen? Warum sollte es ihr wichtig genug sein?
Lois’ Mutter setzte sich mit mir aufs Sofa. Sie begann Konversation zu machen und gab dem Ganzendie Rendezvous-Deutung. Mir fiel der Geruch im Haus auf, ein Geruch nach muffigen kleinen Zimmern, Bettzeug, Bratfett, Wäsche und Heilsalben. Und nach Schmutz, obwohl es nicht schmutzig aussah. Lois’ Mutter sagte: »Ein schönes Auto haben Sie da draußen. Gehört das Ihnen?«
»Meinem Vater.«
»Na wunderbar! So ein schönes Auto hat Ihr Vater! Ich finde es immer wunderbar, wenn andere was besitzen. Ich hab nichts übrig für Menschen, die von Neid und Missgunst zerfressen werden. Ich sage, so was ist wunderbar. Ich wette, wenn Ihre Mutter irgendwas haben will, geht sie einfach ins Warenhaus und kauft es – den neuen Mantel, die Bettdecke, Töpfe und Pfannen. Was macht Ihr Vater? Ist er Arzt oder Anwalt oder so was?«
»Er ist Buchprüfer.«
»Ah. Er hat also ein Büro?«
»Ja.«
»Mein Bruder, der Onkel von Lois, der arbeitet im Büro der Kanadischen Eisenbahn in London. Und zwar ziemlich weit oben, soviel ich weiß.«
Sie erzählte mir davon, wie der Vater von Lois bei einem Unfall in der Fabrik ums Leben gekommen war. Ich bemerkte eine alte Frau, wahrscheinlich die Großmutter, die in der Tür des Zimmers stand. Sie war nicht dünn wie die beiden anderen, sondern weich undformlos wie ein Pudding, hellbraune Flecke bedeckten ihr Gesicht und ihre Arme, in den Barthaaren um ihren Mund stand Feuchtigkeit. Einiges von dem Geruch im Haus schien von ihr auszugehen. Es war ein Geruch nach verborgener Fäulnis, wie er entsteht, wenn irgendein kleines Tier unter der Veranda verendet ist. Der Geruch, die schlurige, vertrauliche Stimme – etwas an diesem Leben, an diesen Menschen war mir neu. Ich dachte: Meine Mutter, auch die Mutter von George, sie sind unschuldig. Sogar George, George ist unschuldig. Aber diese anderen werden
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