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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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los, meine Dame, kommen Sie, wachen Sie auf. Wachen Sie auf«, sagte er und fasste ihre Schulter an, um sie leicht zu schütteln. Die alte Frau, auf deren Gesicht immer noch unmäßige Verachtung stand, fiel mit lautem Rums vornüber auf den Ladentisch, so dass mehrere Päckchen Kleenex, Kaugummi und Tortenverzierung auf dem Fußboden landeten.Der Mann ließ den Flaschenöffner fallen, warf May einen empörten Blick zu, schrie: »Ich bin nicht daran schuld … das ist noch nie passiert«, und stürmte aus dem Laden zu seinem Auto. May hörte den Motor anspringen, dann rannte sie dem Mann hinterher, als wollte sie etwas rufen, als wollte sie »Hilfe« oder »Bleiben Sie« rufen. Aber sie rief nichts, sie blieb mit offenem Mund im Staub vor den Benzinpumpen stehen, und er hätte sie ohnehin nicht gehört; er winkte wild abwehrend aus dem Fenster seines Autos und brauste nach Norden davon.
    May stand draußen vor dem Laden, kein anderes Auto fuhr auf der Straße vorbei, niemand kam. Die Höfe in Black Horse waren leer. Es hatte vor einer kleinen Weile zu regnen begonnen, einzelne Tropfen fielen um sie herum platschend in den Staub. Schließlich ging sie zurück und setzte sich auf die Stufe vor dem Laden, wo der Regen auch hinfiel. Er war warm und machte ihr nichts aus. Sie saß mit angezogenen Beinen und blickte hinaus auf die Straße, auf der sie jetzt gehen durfte, wohin es ihr gefiel, hinaus auf die Welt, die flach und zugänglich und völlig still vor ihr lag. Sie saß da und wartete darauf, dass der Augenblick kam, an dem sie nicht mehr warten konnte, an dem sie aufstehen und in den Laden gehen musste, in dem es wegen des Regens noch dunkler war und in dem ihre Großmutter tot auf dem Ladentisch lag, tot, aber siegreich.

Der Friede von Utrecht
    I
    Ich bin jetzt seit drei Wochen zu Hause, und es war bisher nicht erfreulich. Sowohl Maddy als auch ich sprechen zwar fröhlich davon, wie sehr wir die Nähe eines so ausgedehnten Besuches genießen, aber wir werden beide erleichtert sein, wenn er vorbei ist. Jedes Schweigen schreckt uns auf. Wir lachen übertrieben. Ich habe Angst – höchstwahrscheinlich haben wir beide Angst – vor dem Augenblick des Abschieds, denn wenn es uns nicht gelingt, uns ganz rasch einen Kuss zu geben und uns mit spöttischer Heftigkeit die Schultern zu drücken, werden wir direkt in die Wüste schauen müssen, die zwischen uns liegt, und zugeben müssen, dass wir einander nicht bloß gleichgültig sind; im Grunde unseres Herzens lehnen wir einander ab, und was jene Vergangenheit angeht, von deren Gemeinsamkeit wir so viel hermachen, so teilen wir sie eigentlich überhaupt nicht miteinander, sondern jede behält sie eifersüchtig für sich und denkt insgeheim, dass die andere zu einer Fremden geworden ist und ihren Anspruch darauf verwirkt hat.
    Abends sitzen wir oft auf den Verandastufen, trinken Gin und rauchen emsig, um die Moskitos aus demFeld zu schlagen, und schieben den Augenblick, zu Bett zu gehen, sehr lange hinaus. Es ist heiß; der Abend braucht viel Zeit, um auszubrennen. Das hohe Backsteinhaus, das bis zum Nachmittag relativ kühl bleibt, hält die Hitze des Tages gefangen bis lange nach Einbruck der Dunkelheit. Es war immer so, und Maddy und ich, wir erinnern uns, wie wir oft unsere Matratze hinunter auf die Veranda schleppten, wo wir lagen, die Sternschnuppen zählten und versuchten, bis zur Dämmerung wach zu bleiben. Was uns nie gelang, wir schliefen jede Nacht um die Zeit ein, wenn eine kühle Brise vom Fluss heraufkam und einen Geruch nach Schilf und dem schwarzen Schlamm des Flussbetts mit sich trug. Um halb elf fährt ein Bus durch die Stadt fast ohne das Tempo zu verringern; wir sehen ihn am Ende unserer Straße vorbeifahren. Es ist derselbe Bus, den ich immer nahm, wenn ich vom College nach Hause kam, und ich kann mich erinnern, wie es war, an einem warmen Abend nach Jubilee hereinzukommen und die kahle Erde um die mächtigen Wurzeln der Bäume zu sehen, den von kleinen Wasserpfützen umgebenen Trinkbrunnen auf der Hauptstraße, die weichen Krakel aus blauem, rotem und orangegelbem Licht, die Billard und Cafe sagten; wie ich beim Wiedererkennen dieser Schilder eine sonderbare Art von Bedrückung und Befreiung verspürte, während ich die ganze Ferienwelt der Schule, der Freunde und später der Liebe gegen die düstere Welt meines Zuhauses mit seinen fortwährenden Katastrophen eintauschte. Maddy, die vier Jahre früher dieselbe Reise antrat, muss dasselbe empfunden

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