Tanz der seligen Geister (German Edition)
etliche seitdem, dass wir diesem fremden Mann unsere Kindheit zum Geschenk machten, oder die Version unserer Kindheit, die sicher in Anekdotenform aufbewahrt ist wie in einer Art von mentalem Zellophan. Und was für phantastische Gespinste wir um die zarten Gestalten unseres kindlichen Ichs weben, so dass sie bis zur Unkenntlichkeit verändert unverbesserlich und fröhlich daraus hervorgehen. Zusammen erzählen wir gut. »Ihr Mädchen habt ein hervorragendes Gedächtnis«, sagt Fred Powell, und während er uns beobachtet, spiegeln sich auf seinem Gesicht Bewunderung und noch etwas anderes – Distanz, Verlegenheit und Missbilligung, wie sie auf den Gesichtern dieser sanften, bedächtigen Menschen erscheinen, wenn sie das aufgekratzte Gekasper ihrer Unterhalter betrachten.
Da ich gerade an Fred Powell denke, muss ich zugeben, dass meine Reaktion auf diese – diese Situation ,wie ich sie nenne, weitaus konventioneller ist, als ich erwartet hätte; sie ist sogar absurd. Dabei weiß ich nicht einmal, wie die Situation eigentlich ist. Ich weiß, dass er verheiratet ist. Maddy hat es mir am ersten Abend gesagt, in rein informativem Tonfall. Seine Frau ist leidend. Er bringt sie den Sommer über an den See, sagt Maddy, und er ist sehr gut zu ihr. Ich weiß nicht, ob er Maddys Geliebter ist, und sie wird es mir auch nie sagen. Warum sollte es mir etwas ausmachen? Maddy ist weit über dreißig. Aber ich muss immer wieder daran denken, wie er auf unseren Stufen sitzt, die Hände flach auf seinen gespreizten Knien, das sanfte, volle Gesicht fast nachsichtig Maddy zugewandt, während sie redet, mit einem freundlichen, männlichen Ausdruck, sich gut zu unterhalten, aber nicht beeindruckt zu sein. Und Maddy neckt ihn, sagt ihm, dass er zu dick ist, will seine Zigaretten nicht rauchen, verwickelt ihn in intime, nervöse, zärtliche Streitereien, die keine Bedeutung haben und kein Ende. Er lässt es zu. (Und das ist es, was mir Angst macht, jetzt weiß ich es: Er lässt es zu, sie braucht es. ) Wenn sie ein wenig betrunken ist, sagt sie im Tone halb flehentlichen Spotts, dass er ihr einziger wahrer Freund sei. Er spreche dieselbe Sprache, sagt sie. Niemand sonst tue das. Ich habe darauf keine Antwort.
Dann frage ich mich wieder: Ist er wirklich nur mit ihr befreundet? Ich hatte vergessen, wie sehr das Leben in Jubilee bestimmten Restriktionen unterliegt – die immer noch gelten, egal, was billige Romane über Kleinstädte schreiben –, und auch, welche engen, ehrbaren, nie offenkundig sexuellen Freundschaften innerhalb dieser Restriktionen gedeihen und von ihnen genährt werden, so dass schließlich solche Beziehungen bisweilen ein halbes Leben beanspruchen. Dieser Gedanke deprimiert mich so sehr (Beziehungen, in denen die Sexualität nicht gelebt werden kann, deprimieren Außenstehende vielleicht mehr als alle anderen), dass ich mir plötzlich wünsche, sie wären ganz offen ein Liebespaar.
Der Rhythmus des Lebens in Jubilee ist schlicht an die Jahreszeiten gebunden. Todesfälle ereignen sich im Winter, Hochzeiten werden im Sommer gefeiert. Es gibt einen guten Grund dafür; die Winter sind lang und hart, und die Alten und Schwachen überstehen sie nicht immer. Der letzte Winter war eine Katastrophe, wie sie nur alle zehn oder zwölf Jahre eintritt; man kann sehen, wie überall das Straßenpflaster aufgebrochen ist, als sei die Stadt bombardiert worden. Ein Todesfall wird dann inmitten großer Schwierigkeiten bewältigt; jetzt im Sommer kommt die Zeit, darüber nachzudenken und zu reden. Ich stelle fest, dass Leute mich auf der Straße anhalten, um mit mir über meine Mutter zu sprechen. Sie haben mir von ihrer Beerdigung erzählt, welche Blumen sie bekam und wie das Wetter an dem Tag war. Und jetzt, wo sie tot ist, habe ich nicht mehr das Gefühl, dass alle mit den Worten »deine Mutter« meinem Stolz wissentlich einen hämischen Schlag versetzen. So war mein Empfinden; auf diese Worte hin stürzte meine ganze Identität, diese anmaßende jugendliche Konstruktion, in sich zusammen.
Jetzt höre ich die Leute sanft und feierlich von ihr reden, und mir wird klar, dass sie zu einem der Besitztümer der Stadt geworden ist, zu einer ihrer Kuriositäten, ihrer kurzlebigen Legenden. Das erreichte sie trotz unserer Anstrengungen, denn wir versuchten sie sowohl mit groben als auch mit raffinierten Methoden dazu zu bewegen, dass sie zu Hause blieb, fort von diesem traurigen Aufsehen; nicht um ihretwillen, sondern um unsretwillen,
Weitere Kostenlose Bücher