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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Geheimnistuerei an; jetzt sah sie zu May hoch und blickte sie an, bis die vor Scham und Zorn rot wurde. Auch ihr eigenes Gesicht belebte sich etwas. »Sollen die anderen den Jungs hinterherjagen, wirst schon sehen, was denen das einträgt.« Sie würdigte Eunie und Heather Sue keines Blickes, aber als sie das sagte, drehten sich beide um und flohen aus dem Laden. Man konnte sie an den Benzinpumpen vorbeirennen und in wildes, ein wenig hysterisches Gelächter ausbrechen hören. Die alte Frau ließ sich nicht anmerken, dass sie es hörte.
    May sagte nichts. Sie erkundete im Dunkeln eine neue Dimension der Verbitterung. Sie hatte das Gefühl,dass ihre Großmutter nicht mehr an ihre eigenen Gründe glaubte, dass es ihr eigentlich egal war, aber dass sie trotzdem diese Gründe immer wieder aus der Tasche zog und schlimm damit herumfuchtelte, nur um zu sehen, welchen Schaden sie noch anrichten konnten. Ihre Großmutter sagte: »Diese Heather-Dingsbums. Die hab ich gesehen, wie sie heute Morgen aus dem Bus gestiegen ist.«
    May ging vom Laden durchs Hinterzimmer und durch die Küche auf den Hinterhof. Sie setzte sich neben die Pumpe. Ein alter Holztrog, grün vor Verfall, verlief von der Pumpe zu einer Insel aus kühlem Schlamm in den trockenen Grasbüscheln. Sie saß da, und nach einer Weile sah sie eine große Kröte, eine ziemlich alte und müde, dachte sie, die schwerfällig im Gras herumhopste; sie fing sie mit den Händen.
    Sie hörte die Fliegentür zugehen; sie schaute nicht hin. Sie sah die Schuhe ihrer Großmutter, ihre unglaublichen Fußknöchel, die durchs Gras auf sie zukamen. Sie hielt die Kröte in der einen Hand und hob mit der anderen ein kleines Stöckchen auf; sie fing an, die Kröte damit systematisch in den Bauch zu pieken.
    »Lass das sein«, sagte ihre Großmutter. May ließ das Stöckchen fallen. »Lass das elende Ding los«, sagte sie, und ganz langsam öffnete May die Finger. In der stickigen Nachmittagsluft konnte sie den eigentümlichen Fleischgeruch ihrer Großmutter riechen, dieüber ihr stand; er war süßlich und verdorben wie der Geruch alter, weich werdender Apfelschalen, und er war durchdringender als die normaleren Gerüche nach Kernseife und trockener, gebügelter Baumwolle und Tabak, die sie immer mit sich herumtrug.
    »Ich wette, du weißt es nicht«, sagte ihre Großmutter laut. »Ich wette, du weißt nicht, was mir da drin im Laden durch den Kopf gegangen ist.« May antwortete nicht, sondern beugte sich vor und polkte interessiert an Schorf auf ihrem Bein.
    »Ich habe gedacht, ich könnte den Laden verkaufen«, sagte ihre Großmutter mit derselben lauten, monotonen Stimme, als redete sie mit einem Schwerhörigen oder einer höheren Instanz. Sie stand da, schaute zum gezackten, kiefernblauen Horizont, drückte mit einer Altfrauengeste die flachen Hände auf die Schürze und sagte: »Du und ich, wir könnten uns in den Zug setzen und Lewis besuchen fahren.« Das war ihr Sohn in Kalifornien, den sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte.
    Da musste May hochschauen, um zu sehen, ob ihre Großmutter ihr wieder einen Streich spielte. Die alte Frau hatte immer gesagt, wie blöde Touristen seien, zu denken, dass ein Ort besser sei als ein anderer, und dass man zu Hause besser aufgehoben sei.
    »Du und ich, wir könnten einen Ausflug an die Küste machen«, sagte ihre Großmutter. »Wär gar nicht soteuer, wir könnten die Nacht über im Abteil sitzen bleiben und was zu essen mitnehmen. Es ist besser, was zu essen mitzunehmen, dann weiß man, was man kriegt.«
    »Du bist zu alt«, sagte May grausam. »Du bist achtundsiebzig.«
    »Leute in meinem Alter reisen in die alte Heimat und überallhin, brauchst bloß in die Zeitungen zu schauen.«
    »Du kannst einen Herzanfall kriegen«, sagte May.
    »Dann kann man mich in den Waggon mit dem Salat und den Tomaten packen«, sagte die alte Frau, »und tot nach Hause fahren.« Mittlerweile konnte May die Küste sehen; sie sah einen langen, gekrümmten Sandstrand wie den am See, nur länger und heller; allein die beiden Wörter, »die Küste«, bereiteten ihr ein Gefühl von Kühle und Genuss. Aber sie traute ihnen nicht, konnte das nicht verstehen; wann in ihrem Leben hatte ihre Großmutter ihr je etwas Gutes versprochen?
    Ein Mann stand vorn im Laden und trank Zitronenlimo. Ein kleiner Mann mittleren Alters mit aufgedunsenem, schweißglänzendem Gesicht; er trug ein weißes, nicht mehr sauberes Hemd und einen blassen Seidenschlips. Die alte Frau hatte

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