Tanz der seligen Geister (German Edition)
ganz einfach«, sagte der Mann direkt zu May in einem ausdrucksvollen, sanften Tonfall, den er offenbar für Kinder geeignet hielt. »Das ist so, als würde man andere dazu bringen, dass sie einschlafen. Nur, dass die dann nicht richtig schlafen, verstehst du, Schatz? Man kann mit ihnen reden. Und weißt du was, man kann tief in sie hineinblicken und Dinge herausfinden, an die sie sich überhaupt nicht erinnern konnten, solange sie wach waren. Nämlich ihre verborgenen Sorgen und Ängste, die der Grund für ihre Leiden sind. Ist das nicht phantastisch?«
»Mit mir könnten Sie das nicht machen«, sagte die alte Frau. »Ich wüsste ganz genau, was vorgeht. Mit mir könnten Sie das nicht machen.«
»Ich wette, er kann’s«, sagte May und erschrak so über sich selbst, dass ihr der Mund offen blieb. Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte. Immer wieder hatte sie die Zusammenstöße ihrer Großmutter mit der Außenwelt beobachtet, nicht so sehr voller Stolz, sondern eher mit der festen, unumstößlichen Gewissheit, dass die alte Frau als Siegerin daraus hervorgehen würde. Jetzt sah sie zum ersten Mal die Möglichkeit einer Niederlage ihrer Großmutter, und zwar in dem Gesicht ihrer Großmutter, nicht in dem kleinen Mann, den sie für verrückt hielt und lächerlich fand. Der Gedanke erfüllte sie mit Bestürzung und zugleich mit einer schmerzenden, unwiderstehlichen Erregung.
»Man kann nie wissen, bevor man’s nicht ausprobiert hat«, sagte der Mann wie im Scherz. Er sah May an. Die alte Frau traf eine Entscheidung. Sie sagte verächtlich: »Macht mir nichts aus.« Sie legte die Ellbogen auf den Ladentisch und hielt den Kopf zwischen den Händen, als wollte sie etwas hineindrücken. »Schade um Ihre Zeit«, sagte sie.
»Eigentlich müssten Sie sich hinlegen, damit Sie sich besser entspannen können.«
»Hinsetzen …«, sagte sie und schien für einen Augenblick keine Luft zu bekommen, »hinsetzen reicht mir.«
Dann machte der Mann einen Flaschenöffner von einer Karte mit Kinkerlitzchen ab, die sie im Ladenhatten, ging hinüber und stellte sich vor den Ladentisch. Er hatte es nicht eilig. Als er sprach, tat er es mit seiner natürlichen Stimme, aber sie hatte sich ein wenig verändert; sie war sanft und gleichmütig geworden. »Ich weiß, dass Sie sich gegen diesen Gedanken wehren«, sagte er leise. »Ich weiß, dass Sie sich dagegen wehren, und ich weiß auch, warum. Nämlich weil Sie Angst haben.« Die alte Frau gab einen Laut des Protestes oder der Besorgnis von sich, worauf er die Hand hochhielt, wenn auch sanft. »Sie haben Angst«, sagte er, »und ich will Ihnen nur zeigen, ich möchte Ihnen nur zeigen, dass es da nichts gibt, wovor Sie Angst haben müssen. Nichts, wovor Sie Angst zu haben brauchen. Gar nichts. Nichts, wovor Sie Angst haben müssen, ich möchte nur, ich möchte nur, dass Sie diesen glänzenden Metallgegenstand anschauen, den ich in der Hand halte. So ist es gut, nur diesen glänzenden Metallgegenstand hier in meiner Hand anschauen. Nur einfach anschauen. Machen Sie sich keine Gedanken. Machen Sie sich keine Sorgen. Sagen Sie sich nur, es gibt nichts, wovor ich Angst habe, nichts, wovor ich Angst habe, nichts, wovor ich Angst habe …« Seine Stimme wurde immer leiser; May konnte die Worte nicht mehr verstehen. Sie blieb, wo sie war, an den Fruchtsaftkühler gelehnt. Sie hätte am liebsten gelacht, sie konnte nicht anders, wenn sie den irgendwie schäbigen Hinterkopf des Mannes und seine weißen, runden, zuckenden Schultern ansah. Aber sie lachte nicht, weil sie abwarten musste, was ihre Großmutter tun würde. Wenn ihre Großmutter kapitulierte, dann war das ein ebenso verstörendes Ereignis wie ein Erdbeben oder eine Überschwemmung; es würde die Fundamente ihres Lebens sprengen und sie in die furchterregende Freiheit entlassen. Die alte Frau starrte unverwandt mit wütendem Gehorsam den Flaschenöffner in der Hand des Mannes an.
»So, und nun sagen Sie mir bitte nur«, sagte er, »ob Sie noch sehen können … ob Sie noch sehen können …« Er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu schauen. »Sagen Sie mir bitte nur, ob Sie noch sehen können …« Das Gesicht der alten Frau mit den riesigen kalten Augen und dem starren grimmigen Ausdruck war ganz nah. Er verstummte; er zog sich zurück.
»He, was ist los?«, fragte er, nicht in seinem hypnotischen, sondern in seinem normalen Tonfall – sogar in schärferem als seinem normalen Tonfall, was May erschreckte. »Was ist
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