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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hörte Alma sagen: »Es gibt Schlimmeres. Ich hatte vier Jahre lang die reinste Hölle.« Und Mama sagte: »Er war immer die Freundlichkeit in Person, und er war ganz vernarrt in das Mädchen.« Ich fragte mich, wie ich derartig schläfrig sein konnte, so früh am Abend und nach dem Nickerchen am Nachmittag. Alma sagte: »Sehr gut, dass du so schläfrig bist, das ist die Heilkraft der Natur, genau wie ein Betäubungsmittel.« Beide brachten mich nach oben und zu Bett, und ich hörte sie nicht einmal mehr hinuntergehen.
    Ich wurde auch nicht früher wach. Ich stand zur üblichen Zeit auf und machte mir Frühstück. Ich hörte Mama oben sich regen, aber ich rief ihr zu, liegen zu bleiben, wie an jedem anderen Morgen. Sie rief herunter: »Willst du denn wirklich zur Arbeit gehen? Ich könnte Mr. Hawes anrufen, dass du krank bist.« Ich sagte: »Warum sollte ich irgendwem von denen diesen Gefallen tun?« Ich schminkte mich vor dem Spiegel im Flur ohne Licht, ging hinaus und lief die zweieinhalb Querstraßen bis King’s, ohne zu merken, was für ein Morgen es war, bis auf die Tatsache, dass der Frühling nicht über Nacht gekommen war. Im Geschäft warteten sie schon, schön, dich zu sehen, guten Morgen, Helen, guten Morgen, Helen, diese leisen, freundlichen,hoffnungsvollen Stimmen, dabei wollten sie nur sehen, ob ich lang hinschlage und einen hysterischen Anfall kriege. Mrs. McCool, Beryl Allen mit ihrem Verlobungsring, Mrs. Kress, die selbst vor fünfundzwanzig Jahren sitzengelassen wurde, sich dann mit einem anderen einließ, mit Kress, bis auch der verschwand. Was schaut die mich so an? Der alte Hawes mit seinem ironischen Grinsen. Ich sagte ganz fröhlich guten Morgen und ging hinauf, dankte Gott dafür, dass ich meine eigene Toilette hatte und dachte, ich wette, das wird ein großer Tag für Kinderkleidung. Das wurde er auch. Ich hatte noch nie einen Vormittag mit so vielen Müttern, die ein Haarband kauften oder ein kleines Paar Söckchen und dafür bereitwillig die Treppe hinaufstiegen.
    Ich rief Mama an, dass ich mittags nicht nach Hause kommen würde. Ich dachte, ich werde einfach ins Queen’s Hotel hinübergehen und einen Hamburger essen, mit all den Leuten vom Radio, die ich kaum kenne. Aber um Viertel vor zwölf kommt Alma herein. »Ich lasse dich doch an diesem Tag nicht alleine essen!« Also müssen wir zusammen zum Queen’s Hotel gehen. Sie wollte mich zwingen, ein Eiersandwich zu essen, keinen Hamburger, und ein Glas Milch zu trinken, keine Cola, denn meine Verdauung, sagte sie, sei wahrscheinlich in schlimmem Zustand, aber ich weigerte mich. Sie wartete, bis wir unser Essen hatten und anfangen wollten, bevor sie sagte: »Also sie sind zurück.«
    Ich brauchte eine Minute, bis ich darauf kam, wer. »Wann?«, fragte ich.
    »Gestern Abend um die Essenszeit. Gerade, als ich zu euch fuhr, um dir die Neuigkeit mitzuteilen. Ich hätte ihnen begegnen können.«
    »Wer hat’s dir gesagt?«
    »Na, die Beechers wohnen doch gleich neben den MacQuarries.« Mrs. Beecher unterrichtet die vierte Klasse, Alma die dritte. »Grace hat sie gesehen. Sie hatte schon die Zeitung gelesen, also wusste sie, wer das war.«
    »Wie ist sie so?«, fragte ich gegen meinen Willen.
    »Sie ist kein Backfisch«, sagte Grace. »Jedenfalls in seinem Alter. Hab ich dir nicht gesagt, sie ist die Freundin seiner Schwester? Und Schönheitswettbewerbe wird sie auch nicht gewinnen. Eben normal.«
    »Ist sie groß oder klein?« Jetzt konnte ich nicht mehr aufhören. »Hell oder dunkel?«
    »Sie hatte einen Hut auf, also konnte Grace die Farbe ihrer Haare nicht erkennen, aber sie meint, dunkel. Sie ist eine große Frau. Grace sagt, sie hat ein Hinterteil wie ein Konzertflügel. Vielleicht hat sie Geld.«
    »Hat Grace das gesagt?«
    »Nein. Das sage ich. Bloß eine Vermutung.«
    »Clare braucht keine Frau mit Geld zu heiraten. Er hat genug Geld.«
    »Nach unseren Maßstäben, aber vielleicht nicht nach seinen.«
    Den ganzen Nachmittag über ging mir immer wieder durch den Kopf, dass er bestimmt vorbeikommen oder mich wenigstens anrufen würde. Dann konnte ich ihn fragen, was er sich eigentlich dabei gedacht hatte. Ich ließ mir mehrere verrückte Erklärungen einfallen, mit denen er ankommen konnte, etwas wie, diese arme Frau hatte Krebs und nur noch ein halbes Jahr zu leben, war immer bettelarm gewesen (eine Scheuerfrau in seinem Motel) und sollte noch eine schöne Zeit haben. Oder dass sie seinen Schwager wegen eines betrügerischen

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