Tanz der seligen Geister (German Edition)
ich auf ein angeschmuddeltes Kleenex stieß. Ich wusste nicht, ob ich es ihm anbieten durfte oder nicht, aber er schniefte so laut, dass ich schließlich sagte: »Ich hab nur das eine Kleenex, es ist wahrscheinlich nicht mal sauber, wahrscheinlich sind Tintenflecke drin. Aber wenn ich es in zwei Hälften zerreiße, haben wir jeder etwas.«
»Danke«, sagte er. »Ich kann’s gebrauchen.«
Gut, dass ich das getan habe, dachte ich, denn an der Gartentür, als ich sagte: »Na dann gute Nacht«, und nachdem er gesagt hatte: »Äh, ja, gute Nacht«, beugte er sich vor und küsste mich kurz auf den Mundwinkel mit der Miene jemandes, der stets erkennt, was er zu tun hat. Dann kehrte er in die Stadt um, ohne zu wissen, dass er mein Retter war, mich aus dem Reich von Mary Fortune in die normale Welt zurückgeholt hatte.
Ich ging ums Haus herum zur Hintertür und dachte, ich bin auf einem Ball gewesen, ein Junge hat mich nach Hause gebracht und hat mich geküsst. Es ist alles wahr. Mein Leben ist möglich. Ich ging am Küchenfenster vorbei und sah meine Mutter. Sie saß, die Füße auf der offenen Ofentür, und trank Tee aus einer Tasse ohne Untertasse. Sie saß einfach da und wartete darauf, dass ich nach Hause kam und ihr alles erzählte, wasvorgefallen war. Und das wollte ich nicht, auf keinen Fall. Aber als ich die wartende Küche sah und meine Mutter in ihrem ausgeblichenen, fusseligen Paisley-Morgenrock, mit ihrem müden, aber hartnäckig erwartungsvollen Gesicht, da verstand ich, welch eine geheimnisvolle und bedrückende Pflicht ich hatte, glücklich zu sein, und dass ich bei dem Versuch, diese Pflicht zu erfüllen, beinahe gescheitert wäre und wahrscheinlich jedes Mal scheitern würde, ohne dass meine Mutter es ahnte.
Sonntagnachmittag
Mrs. Gannett kam in die Küche, wiegte sich zu einer Melodie in ihrem Kopf und schwenkte den Glockenrock ihres Strandkleides aus glänzender geblümter Baumwolle. Alva war da und wusch Gläser ab. Es war halb drei; seit ungefähr halb eins hatten sich Gäste eingefunden, um etwas zu trinken. Es waren die üblichen; Alva hatte die meisten von ihnen schon ein paar Mal gesehen, in den drei Wochen, seit sie für die Gannetts arbeitete. Da waren Mrs. Gannetts Bruder und dessen Frau, die Vances und die Fredericks; die Eltern von Mrs. Gannett schauten kurz vorbei, nach dem Gottesdienst in St. Martin, und brachten einen jungen Neffen oder Vetter mit, der dablieb, als sie nach Hause fuhren. Mrs. Gannetts Seite der Familie war die richtige Seite; sie hatte drei Schwestern, alles blonde Frauen, die ohne viel Nachdenken ihre Meinung sagten und noch sportlicher waren als sie, dazu diese herrlich freimütigen und ansehnlichen Eltern, beide mit schneeweißen Haaren. Mrs. Gannetts Vater gehörte die Insel in der Georgian Bay, auf der er Sommerhäuser für jede seiner Töchter gebaut hatte, die Insel, die Alva in einer Woche sehen sollte. Die Mutter von Mr. Gannett jedoch bewohnte die eine Hälfte eines Hauses in einerbaumlosen Straße mit uniformen Backsteinhäusern, unweit des Stadtzentrums. Einmal in der Woche holte Mrs. Gannett sie ab, fuhr mit ihr aus und nahm sie zum Abendbrot mit zu sich, und niemand trank etwas Stärkeres als Grapefruitsaft, bis sie wieder nach Hause gebracht worden war. Einmal, als Mr. und Mrs. Gannett unmittelbar nach dem Abendessen aufbrechen mussten, kam sie in die Küche und räumte für Alva das Geschirr ein; sie war ziemlich grantig und reserviert, wie die Frauen in Alvas eigener Familie es gegenüber einem Dienstmädchen gewesen wären, und Alva störte das weniger als die routinierte, rücksichtsvolle Leutseligkeit von Mrs. Gannetts Schwestern.
Mrs. Gannett machte den Kühlschrank auf und stand vor der offenen Tür. Schließlich sagte sie, mit so etwas wie einem Kichern: »Alva, ich denke, wir könnten mit dem Lunch anfangen …«
»Geht klar«, sagte Alva. Mrs. Gannett sah sie an. Alva sagte nie etwas Falsches, kam ihr nie frech, und Mrs. Gannett war nicht so unrealistisch, von einem Schulmädchen, gar einem vom Lande, zu erwarten, dass es mit »Jawohl, gnädige Frau« antwortete, wie es die alten Dienstmädchen in der Küche ihrer Mutter taten; aber in Alvas Ton schwang oft eine künstliche Zwanglosigkeit mit, eine übertriebene Unbekümmertheit und Umgänglichkeit, was umso ärgerlicher war, weil Mrs. Gannett nichts einfiel, was sich daran aussetzen ließ. Jedenfalls verschlug es ihr das Kichern; ihr gebräuntes, geschminktes Gesicht wurde
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