Tanz der seligen Geister (German Edition)
ein Gespräch hätte nie und nimmer in ihrer Gegenwart stattfinden können.
»Zwei Monate, nachdem sie ins Krankenhaus gekommen ist«, sagte Tante Annie. »Zwei Monate, und sie war dahin.« Ich sah, dass sie bekümmert weinte, wie es alte Leute tun, mit schmerzlichen, spärlichen Tränen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Kleid und rieb sich das Gesicht.
»Maddy hat ihr gesagt, es ist nur zu einer gründlichen Untersuchung«, sagte sie. »Maddy hat ihr gesagt, es ist für etwa drei Wochen. Deine Mutter ist reingegangen und hat gedacht, sie kommt in drei Wochen wieder raus.« Sie flüsterte, als hätte sie Angst, jemand könnte uns hören. »Meinst du, sie wollte da drinbleiben, wo keiner verstehen konnte, was sie sagte, und wo sie nicht aus dem Bett durfte? Sie wollte nach Hause!«
»Aber sie war zu krank«, sagte ich.
»Nein, war sie nicht, sie war genauso, wie sie immer gewesen ist, nur im Laufe der Zeit von Mal zu Mal ein bisschen schlechter dran. Aber sobald sie da drin war, hatte sie das Gefühl, sie muss sterben, alles schloss sich immer enger um sie, und es ging steil mit ihr bergab.«
»Vielleicht wäre es auch so passiert«, sagte ich. »Vielleicht war es an der Zeit.«
Tante Annie beachtete mich nicht. »Ich habe sie im Krankenhaus besucht«, sagte sie. »Sie hat sich gefreut, mich zu sehen, weil ich verstand, was sie gesagt hat. Sie fragte: Tante Annie, die werden mich doch nicht auf Dauer hierbehalten? Und ich sagte ihr: Nein. Ich sagte: Nein.«
»Und sie sagte: Tante Annie, sag Maddy, sie soll mich wieder nach Hause holen, sonst sterbe ich. Sie wollte nicht sterben. Denk ja nicht, dass jemand sterben will, bloß weil alle anderen meinen, dass er keinen Grund hat, weiterzuleben. Also habe ich es Maddy ausgerichtet. Aber sie hat nichts gesagt. Sie ist jeden Tag ins Krankenhaus gegangen und hat deine Mutter besucht, aber sie wollte sie nicht nach Hause holen. Deine Mutter hat mir erzählt, dass Maddy zu ihr gesagt hat: Ich werde dich nicht nach Hause holen.«
»Mutter hat nicht immer die Wahrheit gesagt«, warf ich ein. »Das weißt du, Tante Annie.«
»Hast du gewusst, dass deine Mutter aus dem Krankenhaus weggelaufen ist?«
»Nein«, sagte ich. Aber seltsamerweise war ich nicht überrascht, ich spürte nur ein vages körperliches Angstgefühl, ein Verlangen, es nicht zu erfahren – und darüber hinaus ein Gefühl, dass ich schon wusste, was ich erfahren würde, es immer gewusst hatte.
»Hat Maddy es dir nicht erzählt?«
»Nein.«
»Sie ist tatsächlich weggelaufen. Zur Seitentür hinaus, wo die Notfallwagen reinfahren, das ist die einzige Tür, die nicht abgeschlossen ist. Es war nachts, wo nicht so viele Krankenschwestern zum Aufpassen da sind. Sie hat ihren Morgenmantel und ihre Pantoffeln angezogen, zum ersten Mal seit Jahren hat sie sich selber was angezogen, und ist rausgelaufen, und draußen war Januar und es hat geschneit, aber sie ist nicht wieder reingegangen. Sie war weit die Straße runter, als die sie eingefangen haben. Danach haben sie ihr das Brett übers Bett gelegt.«
Der Schnee, der Morgenmantel und die Pantoffeln, das Brett quer über ihrem Bett. Ein Bild, dem ich mich verweigern wollte. Doch ich hatte keinen Zweifel daran, dass es stimmte, all das stimmte und war genauso geschehen. Es war das, was sie getan hätte; ihr ganzes Leben, seit ich sie kannte, lief hinaus auf diese Flucht.
»Wo wollte sie hin?«, fragte ich, aber ich wusste, dass es darauf keine Antwort gab.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hätte ich es dir nicht erzählen sollen. Ach, Helen, als sie hinter ihr her waren, hat sie versucht zu rennen. Sie hat versucht zu rennen!«
Die Flucht, die jeden betrifft. Selbst hinter dem weichen, vertrauten Gesicht meiner Tante verbirgt sich eine andere, primitivere alte Frau, die dort in ihrem Wesen, wo ihr Vertrauen nicht hinreicht, zu Panik fähig ist.
Sie begann die Sachen zusammenzufalten und in den Karton zurückzulegen. »Sie haben ein Brett quer über ihr Bett genagelt. Ich hab’s gesehen. Man kann den Schwestern keinen Vorwurf machen. Die können nicht auf jeden aufpassen. Die Zeit haben sie gar nicht.«
»Nach der Beerdigung habe ich zu Maddy gesagt: Maddy, möge es dir nie so ergehen. Das habe ich gesagt, ich konnte nicht anders.« Sie setzte sich jetzt selbst aufs Bett, faltete alles zusammen und legte es wieder in den Karton, bemüht, ihrer Stimme den normalen Klang zurückzugeben – was ihr ziemlich bald gelang, denn wer wäre nach einem so langen
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