Tanz im Dunkel
absichtlich strähnig werden lassen, und sie strich es sich hinters Ohr, während sie sich über ihre Mitschrift beugte. Sie ärgerte sich so über ihre eigene Unentschlossenheit, dass sie sich nicht auf die Vorlesung konzentrieren konnte. Als der Professor plötzlich die Frage an sie richtete, was denn ihre Meinung über die englische Vorgehensweise während der sogenannten Großen Hungersnot in Irland wäre, schreckte sie hoch und hatte ziemliche Mühe, sich eine entsprechende Antwort für ihn auszudenken. Der Tag sollte sogar noch unerfreulicher werden. Denn als Rue später in der Bibliothek über einer Semesterarbeit saß, bemerkte sie, dass die brünette Studentin, die ihr gegenüber am Tisch saß, sie dauernd anstarrte. Rue kannte diesen Blick.
“Du bist es, oder?”, flüsterte das Mädchen, nachdem es offenbar all seinen Mut zusammengenommen hatte.
“Wer?”, fragte Rue zurück, ohne eine Miene zu verziehen.
“Das Mädchen, das mal Schönheitskönigin war. Das damals …”
“Sehe ich etwa aus wie eine Schönheitskönigin?” Rues Ton war scharf. “Sehe ich wie irgendeine Königin aus?”
“Oh, Entschuldigung”, stammelte das Mädchen. Ihr rundes Gesicht war knallrot vor Verlegenheit.
“Dann halt die Klappe”, zischte Rue. Sie hatte herausgefunden, dass Unhöflichkeit die effektivste Form der Verteidigung war. Anfangs hatte sie sich dazu zwingen müssen, doch mittlerweile fiel es ihr ausgesprochen leicht. Sie blieb sitzen, während die verlegene Studentin ihre Bücher und Stifte einpackte und die Bibliothek fluchtartig verließ. Rue hatte festgestellt, dass es eine Art Eingeständnis darstellte, wenn sie selbst als Erste ging.
Abends ging Rue – immer noch aufgebracht und wütend – zum Tanztraining.
Den ganzen Weg zum Blue Moon zerbrach sie sich den Kopf, was sie tun sollte. Sollte sie ihren neuen Partner zur Rede stellen? Doch sie brauchte den Job so dringend; sie tanzte so furchtbar gern. Und obwohl es ihr peinlich war, es sich einzugestehen: Sie fand es einfach toll, sich zwischendurch mal wieder zurechtzumachen und so schön wie möglich auszusehen, statt sich zu verstecken.
Rue entschloss sich zu einem Kompromiss. Falls Sean sich während des heutigen Trainings so gut benahm wie beim ersten Mal, und falls er ihr keine persönlichen Fragen stellte, würde sie die Angelegenheit nicht erwähnen. Wenn sie die Woche durchstand, konnte sie am Freitag auftreten und Geld verdienen.
Sie konnte nicht verhindern, dass ihre schlechte Laune sie umgab wie eine düstere Wolke, während sie das Studio betrat. Als Sean sie jedoch ganz ruhig begrüßte, gelang es ihr, ihre Wut auf ein halbwegs erträgliches Maß zurückzuschrauben.
Das Tanzen klappte an diesem Abend sogar noch besser. Sie war aggressiv, und dieses Gefühl verlieh ihrer Performance mehr Dynamik. Sean korrigierte ein paar ihrer Armbewegungen, und sie befolgte seine Vorschläge. Sie machte sogar selber ein paar.
Falls er ihr später wieder nach Hause gefolgt war, hatte sie es nicht gemerkt. Sie begann, die Situation gelassener zu sehen.
Am nächsten Abend biss er sie.
“Du möchtest es bestimmt nicht zum ersten Mal vor Publikum erleben”, sagte er. “Du würdest vielleicht schreien. Oder in Ohnmacht fallen.” Er schien das Thema ganz sachlich zu sehen. “Probieren wir jetzt dieses Duett, an dem wir gearbeitet haben, den Bolero.”
“Was wahrscheinlich das abgedroschenste ‘erotische Musikstück’ der Welt ist”, fügte sie angriffslustig hinzu, um ihre Nervosität zu verbergen.
“Aber doch nicht ohne Grund”, entgegnete er hartnäckig. “Grund” klang bei ihm wie “Grond”. Sein irischer Akzent schlug stärker durch, wenn er verärgert war. Rue hörte ihn gern so reden. Vielleicht würde sie ihn künftig öfter ein bisschen herausfordern.
Das Duett, das sie einstudiert hatten, war eindeutig dem modernen Ballett zuzurechnen. Sie begannen damit, dass Sean sich Rue näherte und versuchte, sie zu verführen, während sie beide mit ihren Händen und den Bewegungen ihrer Körper ausdrückten, wie sehr sie sich danach sehnten, einander zu berühren. Den Schluss bildete eine ziemlich komplizierte Figur, bei der sie die Arme und Beine umeinander schlangen. Schließlich ließ Sean sie in jene Position hinunter, die sie am Vortag geprobt hatten.
“Wir gehen diesmal sehr tief hinunter”, erklärte er. “Mein rechtes Knie berührt den Boden, und deine ausgestreckten Beine sollten parallel zu meinem linken Bein sein. Leg
Weitere Kostenlose Bücher