Tanz im Dunkel
Die Kleider für die Frauen waren nabelfrei und bestanden aus einem kurzen, geblümten Rock, der so gewickelt war, dass er entfernt an einen Sarong erinnerte, und aus einem dazu passenden Bikinioberteil. Die schwarze Langhaarperücke war mit künstlichen Blumen geschmückt.
Rue versuchte, sich vorzustellen, wie ihr dieses Kostüm stehen würde, und kam zu dem Schluss, dass sie ziemlich hübsch darin aussehen müsste. Doch dann betrachtete sie noch einmal den tief sitzenden Rock. “So weit unten?”, fragte sie.
“Ja”, antwortete Sylvia. “Es ist momentan angesagt, den Nabel zu zeigen, und Connie wollte eine Art Modernisierung des Insulanerinnen-Looks.”
“Das kann ich leider nicht tragen”, erklärte Rue.
“Stimmt etwas mit deinem Nabel nicht?”, neckte Thompson sie.
“Es ist mein Bauch”, sagte sie in der Hoffnung, dass sie sich nicht näher dazu äußern musste.
“Das kann ich nicht glauben. Schlanker als Sie kann man ja wohl kaum sein”, widersprach Sylvia brüsk. Sie war Einwände nicht gewohnt.
Rue hatte eine gesunde Portion Respekt vor ihrer Arbeitgeberin. Sie wusste, dass Sylvia Beweise sehen wollte. Besser, Rue brachte es gleich hinter sich. Tänzer waren einen unkomplizierten Umgang mit dem eigenen Körper gewohnt. Sie stand so abrupt auf, dass Sean, der neben ihrem Stuhl an der Wand lehnte, erschrak. Dann zog sie ihr T-Shirt hoch, öffnete den Reißverschluss ihrer Jeans und merkte, dass sie heute Morgen einen knappen Hipster angezogen hatte. Also bestand keine Notwendigkeit, das Höschen noch etwas nach unten zu schieben. “Man würde das hier sehen”, sagte sie und versuchte, möglichst ruhig dabei zu klingen.
Es war ganz still im Raum, als die Tänzer auf die dicke Narbe starrten, die in einer Zickzack-Linie von Rues Bauchnabel bis unter den Rand ihres weißen Slips verlief.
“Grundgütiger, Rue!”, rief Karl. “Hat jemand versucht, dich auszuweiden?”
“Totaloperation trifft es besser.” Rue machte ihre Jeans wieder zu.
“Das können wir nicht mit Make-up kaschieren”, stellte Sylvia fest. “Oder doch?”
Die beiden anderen Paare und Sylvia begannen, Rues vernarbten Bauch ganz sachlich zu diskutieren. Wie ein Problem, das es nun mal zu lösen galt.
Die Diskussion ging weiter, während Rue schweigend und mit über der Brust verschränkten Armen dasaß, damit niemand ihr anmerkte, wie aufgewühlt sie war. Ihr fiel auf, dass von Sean kein Wort zu hören war. Langsam drehte sie sich zu ihm und sah ihn an. Seine blauen Augen funkelten. Er war aufgebracht, ja, er kochte geradezu vor Zorn.
Angesichts der gelassenen Reaktion der anderen hatte Rue sich gerade ein wenig beruhigt, doch als sie nun sah, wie zornig er war, spürte sie wieder die vertraute Scham. Am liebsten hätte sie sich vor ihm versteckt. Und genau das verstand sie nicht. Warum schämte sie sich vor Sean, den sie besser kannte als die anderen Tänzer?
“Rue”, sagte Sylvia, “hören Sie überhaupt zu?”
“Nein, tut mir leid. Was ist?”
“Megan und Julie glauben, dass sie es abdecken können”, erklärte Sylvia. “Würden Sie das Engagement annehmen, wenn wir die Narbe auf Ihrem Bauch überschminken?”
“Klar”, antwortete Rue ohne recht zu wissen, was sie sich damit aufhalste.
“Gut, dann also Freitag in zwei Wochen. Ihr beginnt sofort mit dem Einstudieren einer langen Nummer. Eine Art Fantasie-Südseetanz. Ihr seid nach den Jongleuren dran. Julie und Thompson wurden für eine Feier an diesem Samstagabend gebucht – und Karl und Megan, ihr beide tanzt bei einer Dinnerparty am Sonntag. Sean, Sie und Rue sind für die Eröffnung eines Big-Band-Abends eingeteilt, auf der Benefizgala zugunsten der Intensivstation für Verbrennungen.”
Rue versuchte, sich zu freuen, denn sie tanzte schrecklich gern zu Big-Band-Musik, und es gab ein wunderschönes Kleid im Stil der Vierzigerjahre, das sie dazu anziehen würde. Doch sie war immer noch bedrückt darüber, dass sie den anderen ihre Narbe gezeigt hatte. Was war bloß in sie gefahren? Jahrelang hatte sie ihr Bestes getan, sie zu verstecken, und nun hatte sie plötzlich vor den Augen fast fremder Leute ihre Jeans hinuntergezogen und sie ihnen gezeigt.
Und diese Leute hatten alle ziemlich gelassen reagiert. Sie hatten weder gekreischt noch sich übergeben und sie auch nicht gefragt, was sie bloß angestellt hatte, um so etwas zu verdienen. Sie hatten sich nicht einmal erkundigt, wer ihr das angetan hatte. Rue stellte überrascht fest, dass sie sich
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